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kinoKönnen wir nicht ’nen Film gucken …? Wer ein paar Jahre als LehrerIn gearbeitet hat, vielleicht nicht gerade in den Fächern Mathematik oder Sport, kennt diese Frage zu genüge. Die Frage aus SchülerInnenmund ist auch völlig legitim: SchülerInnen möchten ihre Arbeitsbelastung möglichst gering halten. Nicht anders geht es da den LehrerInnen – auch sie zeigen aus demselben Grund gerne mal den einen oder anderen Film. Dies dient außerdem der Entspannung sowie Konfliktvermeidung im Klassenraum.

Im Gegensatz zu den SchülerInnen haben LehrerInnen aber auch einen didaktischen Anspruch. Der Griff zur DVD (bei uns auch immer noch: zur VHS-Cassette) bedarf daher einer pädagogischen Begründung: In Fächern, die wenigstens teilweise historisch/biographische Inhalte vermitteln, bietet sich aber das Medium Film geradezu an: Ein guter Film verspricht eine anschauliche Vermittlung historischer Ereignisse oder Biographien und schaut sich trotzdem angenehm fluffig weg. Den SchülerInnen wird Unterhaltung auf Hollywood-Niveau geboten, gleichzeitig können sie noch etwas lernen.

Dass viele der so beliebten Filme gerade nicht gut gemacht sind, sondern zum Teil haarsträubende Fehler enthalten, sei geschenkt. Dass z.B. »der Untergang« sich auf die Erinnerungen einer überzeugten Nationalsozialistin stützt – geschenkt. Dass zu den Quellen der als besonders authentisch gefeierten »Passion Christi« die Visionen einer mystischen Nonne aus dem Mittelalter gehören – ebenfalls geschenkt. Und schließlich: dass der Film »Luther« den gewiss sehr telegenen Kampf des kleinen deutschen Mönches gegen die große römische Kirche in den Mittelpunkt des Interesses rückt, darüber aber den Kern der reformatorischen Erkenntnis und ihrer Gewinnung unverdienterweise in eine Nebenrolle verdrängt – selbst das sei geschenkt.

kinokarteFilme im Unterricht sind deshalb so beliebt, weil sie historische Begebenheiten als Unterhaltungsstoff präsentieren. Da wird hier ein bisschen ausgelassen, dort ein bisschen ergänzt und vor allem ganz stark selektiert, um ein ansprechendes Gesamtergebnis zu erhalten. Der Preis dafür: Aus wissenschaftlichem Stoff wird Unterhaltungs- und Entspannungsmaterial, Fakt, Fiktion und Interpretation vermischen sich.

Das Hauptproblem ist grundsätzlich und erkenntnistheoretischer Natur: Es gibt in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften keine absoluten Wahrheiten, wenigstens nicht in den Bereichen, auf die es wirklich ankommt. Vermeintliche Wahrheiten beruhen auf Wahrnehmungen. Da der Geist nie die Gesamtheit aller Wahrnehmungen verarbeiten kann, wird der eingehende Informationsfluss gefiltert, strukturiert und kategorisiert, so dass nur der geringste Teil in unser Bewusstsein vordringt. Das Auswahlkriterium ist die Relevanz; ein klassisches nicht-objektives Kriterium. Was relevant ist, hängt von unseren Erwartungen, Überzeugungen und Vorwissen ab.

Statistiken und Zahlen können absolut wahr oder falsch sein. Ist die in der Bibel genannte Zahl von 12 Jüngern Jesu zutreffend? Auf diese Frage gibt es eine eindeutige Antwort, auch wenn wir sie leider nicht kennen und wahrscheinlich auch nie kennenlernen werden.

Was war der Beitrag der Jünger zur Verbreitung der Lehre Jesu? Auf diese Frage könnten wir selbst dann keine eindeutige Antwort geben, wenn wir persönlich ZeugInnen oder gar JüngerInnen Jesu gewesen wären. Und zwar deshalb, weil es hier um eine Einschätzung geht, der individuelle Annahmen und Vergleichswerte zu Grunde liegen. Und diese werden von Fall zu Fall unterschiedlich sein.

Die Bibel, bzw. die Menschen, die den neutestamentlichen Kanon gebildet haben, wussten offenbar um dieses Problem und haben eine ebenso einfache wie verblüffende Lösung gefunden: Nicht eine, sondern vier Versionen der – im Prinzip identischen – Geschichte von Leben und Wirken Jesu finden sich in der Bibel. Natürlich unterscheiden sie sich auch im einen oder anderen faktischen Detail, z.B. der Frage wie viele Engel am leeren Grab Christi standen. Viel wichtiger ist aber, dass die verschiedenen Evangelien auch grundverschiedene Intentionen und Begründungen der Lehre Jesu suggerieren. Religiöse SozialistInnen halten sich z.B. gerne an Lukas, während eher abstrakt denkende PhilosphInnen sich bei Johannes besser aufgehoben fühlen. Die verschiedenen Stoßrichtungen der Evangelien reflektieren die verschiedenen Interessen und Weltbilder ihrer Urheber. Und es gibt sogar noch weitere, die so genannten apokryphen Evangelien. Ihre Nichtaufnahme in den Kanon belegt übrigens, dass man die Qualitätskontrolle seinerzeit durchaus ernst genommen hat.

Bei der Zusammenstellung des Neuen Testaments, wie wir es heute kennen, hat man sich bewusst nicht auf das vermeintlich beste Evangelium beschränkt und man hat erst recht keinen Mischtext mit Anteilen aus allen vier Evangelien produziert. Die Weitergabe vierer sehr unterschiedlicher Texte schärft das Bewusstsein dafür, dass es verschiedene, aber gleichermaßen legitime Sichtweisen auf die biblischen Ereignisse gibt.

Das Vorwissen beeinflusst das Textverständnis, sagt die ExegetIn. Der Volksmund sagt: Wenn zwei Menschen das gleiche erleben, ist es noch lange nicht das Gleiche.

pocornDiese Schwierigkeit wird bei der Überlieferung historischer Ereignisse oder weltanschaulicher Lehren noch potenziert: Das Wissen um Vergangenes wird von Generation zu Generation in einer langen Kette weitergereicht. Und alle an dieser Kette Beteiligten bringen ihr Vorwissen ein und drücken dem Bericht ihren eigenen Stempel auf. Das beginnt schon bei den AugenzeugInnen, die nur das weitergeben, was sie selber erlebt haben und außerdem für relevant halten. Es setzt sich fort mit AutorInnen, die aus vielen Berichten einerseits das auswählen, was sie für typisch und plausibel halten, andererseits möglicherweise auch Details ergänzen, für die sie keine direkten Belege haben. Und es endet erst mit den RezipientInnen von Filmen oder Texten, die nachgewiesenermaßen das ignorieren, was mit ihrem Weltverständnis nicht in Einklang zu bringen ist.

Ein gutes Geschichtsbuch hält sich mit der Ergänzung nur plausibler, nicht aber belegbarer Zusatzdetails hoffentlich zurück. Und ebenso wie die Bibel sollte es bemüht sein, eine allzu einseitige Sicht dadurch zu vermeiden, dass es mehrere verschiedene Quellen zum selben Ereignis nebeneinander stellt. Ganz anders der Film: Der guckt sich ja deshalb so angenehm leicht weg, weil er nicht auf Ereignisse, erst recht nicht auf Ideen, sondern auf Personen fokussiert. Das menschelt so schön warm, weil man historische Figuren von ganz nahe und bei alltäglichen Verrichtungen zusehen darf. Da sind sie auch nur Menschen wie du und ich, und endlich, endlich können wir uns auch mit ihnen identifizieren. Allerdings sind Informationen über das Alltagsleben historischer Personen sehr rar – wer sie im Film dennoch darstellen will, ist in der Regel auf kreative Interpolation angewiesen.

Und apropos Identifikation: Selbst wenn ein Film um möglichst realistische, d.h. ambivalente Zeichnung der Charaktere bemüht ist, führt die fast zwangsläufige Identifikation mit einer Hauptfigur dazu, dass diese und ihr Handeln in besonders positivem Licht erscheint, während die AntagonistInnen im Gegenteil besonders schlecht wegkommen. Auch Farbfilme verführen also zum Schwarz-Weißdenken.

So wird das, was bestenfalls eine mögliche Deutung von historischen Ereignissen ist, unversehens zur einzigen Deutung. Und gemäß der Überzeugung, dass wir nur das glauben, was wir mit eigenen Augen sehen, glauben wir diese Deutung als wahr, weil wir sie ja mit eigenen Augen gesehen haben. Bilder brennen sich stärker als Worte in das Gedächtnis ein und werden selbst dann kaum hinterfragt, wenn wir wissen, dass sie nicht die Wahrheit wiedergeben.

Es gibt die schöne Geschichte vom ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der gerne über seine Erlebnisse als Soldat im Zweiten Weltkrieg schwadronierte. Eines dieser Erlebnisse soll sich um einen verletzten Soldaten in einem angeschossenen Flugzeug gedreht haben. Da er das Flugzeug nicht mit dem Fallschirm verlassen konnte, wurde das eigentlich fluguntaugliche Gerät mit vereinten Kräften doch noch mehr oder weniger sicher gelandet. Hierfür lassen sich leider keine historischen Belege finden. Belegbar ist hingegen, dass Reagan nach dem Krieg als Schauspieler am Film A Wing and a Prayer mitgewirkt hatte. Dieser Film enthält eine Szene, die der von Reagan geschilderten genau entspricht, aber – es handelt sich um einen Spielfilm – fiktiv ist. Er hatte – sicher ohne böse Absicht – Film und Realität miteinander verwechselt. Was man mit eigenen Augen sieht, wird allzu schnell mit der Wirklichkeit verwechselt.

Dabei gäbe es durchaus Mittel und Wege, um auch im Film verschiedene Varianten eines Ereignisses gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen:

kinovarieteDie amerikanische Agenten-Serie 24 hat relativ früh ausgiebigen Gebrauch von der Split-Screen Technik gemacht. Dabei wird der Bildschirm aufgeteilt und es werden parallel z.B. mehrere verschiedene Perspektiven auf das gleiche Ereignis gezeigt.

Der deutsche Film Lola rennt besteht aus einer Aneinanderreihung mehrerer Filme, die alle den gleichen Ausgangspunkt haben, sich von dort aus aber unterschiedlich weiterentwickeln.

Der Film Dogville von Lars von Trier verzichtet nahezu komplett auf Requisiten und Bauten, entscheidende Szenen werden nicht gezeigt. Lars von Trier möchte wahrscheinlich das eigene Nachdenken stimulieren – man kann diese Technik aber auch nutzen, um dort, wo gesicherte Erkenntnisse fehlen, bewusst und deutlich sichtbar Leerstellen zu lassen.

Schließlich gab es da vor einiger Zeit noch einen sehr schönen Tatort, in dem immer mal wieder ein Erzähler auf die Bühne (ja, es war tatsächlich eine Art Bühne) trat und das Geschehen kommentierte. Auch das ist eine wirksame Technik, um die Unmittelbarkeit des vermeintlich Erlebten zu durchbrechen und eine Distanzierung zu erzwingen.

Ärgerlicherweise entstammen alle von mir aufgeführten Beispiele dem Unterhaltungssektor. Mir ist kein einziger historischer oder religiöser Film bekannt, der die oben benannten Techniken nutzt, um eine vorschnelle Identifikation mit einer einzigen Sicht auf die Geschehnisse zu unterbinden.

Was also tun? Gar keine Filme im Unterricht einsetzen?

Tatsächlich bin ich der Meinung, dass wir nicht versuchen dürfen, SchülerInnen vermittels Spielfilmen zu »quasi-«AugenzeugInnen historischer Ereignisse oder Figuren zu machen.

Denn 1.) ist schon die tatsächliche AugenzeugIn ebenso schlecht wie unvollständig über das Gesehene informiert und 2.) muss ein Film in der AugenzeugInnenperspektive beinahe zwangsläufig inkorrekt und verfälschend sein.

Das heißt aber nicht, dass Filme im Unterricht überhaupt nichts zu suchen hätten.

kinosaalSchon der gute alte Brecht wusste um die Vorzüge des V-Effekts: Wenn man eine Darstellung so weit verfremdet, dass sie sich nicht in unser Weltwissen integrieren lässt, sind wir gezwungen, diesen Konflikt aufzulösen, das Gesehene also zu reflektieren. Life of Brian ist meines Erachtens besser geeignet, über Leben und Wirken Jesu zu informieren, als jeder dahergelaufene Bibelschinken. Allerdings nur dann, wenn den offensichtlichen Absurditäten nachgegangen und die tatsächlich realistischen Aspekte identifiziert werden. In der gleichen Logik wäre auch Inglourious Basterds der bessere Film über den Nationalsozialismus – allerdings verunmöglicht die FSK-18-Einstufung den Einsatz in der Schule.

Und umgekehrt lässt sich aus der Not der Subjektivität von Filmen natürlich auch eine Tugend machen: Es gibt nichts Lehrreicheres, als mehrere filmische Versionen desselben Stoffes miteinander zu vergleichen und die weltanschaulichen Voraussetzungen oder Interessen der MacherInnen zu ermitteln. Da der Vergleich ganzer Filme in der Regel nicht möglich sein wird, sollte man sich hier auf einzelne Sequenzen beschränken. Und wer dann z.B. im Religionsunterricht unterschiedliche Filmumsetzungen der Kreuzigung Christi vergleicht, ist fast schon wieder auf dem selben Stand wie die antike Kirche, die nicht eines, sondern vier Evangelien kanonisiert hat.

(c) Bilder: Rainer Sturm  / pixelio.de (Kino, Popcorn, Kinosaal); Jakub Sproski  / pixelio.de (Kinokarte); Martin Wendring  / pixelio.de (Filmtheater & Variete)

Kategorie: Schule, Pädagogik usw.