Drucken
Eine dystopisch anmutende Wand voller analoger Uhren, die unterschiedliche Zeiten anzeigen

Für eine Teilnahme an der Blogparade bin ich zwar etwas spät, außerdem fehlt mir ein lebendiger Blog – aber das Thema ist so wichtig, dass ich mich einfach an die von Jan-Martin ausgerufene Runde dranhängen und meine Gedanken sortieren und aufschreiben möchte. Arbeitszeiterfassung für Lehrer:innen ist eine der zentralen Forderungen des Bildungsrats von unten.

Das an sich ist schon erstaunlich, weil ja eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass die tariflich bzw. im Beamt:innengesetz festgelegte Arbeitszeit auch kontrolliert und überwacht wird. Wird sie aber nicht. In allen deutschen Ländern (in Hamburg mit Einschränkungen) wird die Lehrer:innenarbeitszeit über das so genannte Deputatsmodell geregelt. Das bedeutet: Die Bildungsministerien erkennen an, dass zur Arbeitszeit mehr gehört als die Stunden vor der Klasse. Definiert wird aber nur die Unterrichtsverpflichtung, das Deputat. Das Deputat liegt deutlich unter der zu leistenden Arbeitszeit, die restliche Zeit dient Aufgaben wie z.B. Vor- und Nachbereitung, Korrekturen, Beratungsgespräche, Exkursionsbegleitungen, Konferenzen etc.

In NRW z.B. müssen Gymnasiallehrer:innen bei voller Stelle 25,5 Wochenstunden (etwas mehr als 19 Zeitstunden) unterrichten. Ihre gesetzlich/tarifliche Arbeitszeit liegt bei 41 Wochenstunden, also mehr als dem Doppelten. Da aber die unterrichtsfreien Ferienzeiten erheblich länger als ein gewöhnlicher Urlaubsanspruch sind, liegt die rechnerische Arbeitzszeit sogar bei ca. 47 Wochenstunden [»Mußmann-Studie«, S. 176]; allerdings nur unter der Annahme, dass die Ferienzeiten komplett arbeitsfrei bleiben, was in der Realität kaum je der Fall sein dürfte.

Dass sich 25,5 Wochenstunden Unterrichtsverpflichtung während der Schulzeit in 41 Stunden durchschnittlicher Wochenarbeitszeit über das Gesamtjahr (abzüglich Urlaubsanspruch) umrechnen lassen, ist eine Behauptung des Schulministeriums. Der Wert ist weder theoretisch errechnet noch durch praktische Messungen erhoben. Im Gegenteil: Es gibt Erhebungen, und die kommen übereinstimmend zum Ergebnis, dass Lehrer:innen in Deutschland ca. 3 bis 4 Wochenstunden unbezahlte Mehrarbeit leisten. Zugegeben: Die meisten dieser Erhebungen wurden von der Gewerkschaft oder einem der Berufsverbände initiiert. Es gibt nur eine mir bekannte Ausnahme, die in meiner Jugend Ende der 1980er Jahre Thema am heimischen Esstisch war: Die Wirtschaftsberatung Kienbaum sollte im Auftrag der Landesregierung die Lehrer:innenarbeitszeit untersuchen. Meine Mutter (Lehrer:in) war schwer empört und vermutete ein abgekartetes Spiel, das Lehrer:innen Minderarbeit nachweisen und so weitere Belastungen rechtfertigen solle. Es kam anders: Kienbaum attestierte unbezahlte Mehrarbeit im Gesamtvolumen von 17.000 Stellen allein in NRW (auf Anhieb leider nur ein Artikel in der taz netzfindbar). Seither sind die Belastungen sicher nicht gesunken, das Land NRW hat aber von weiteren Untersuchungen der Lehrer:innenarbeitszeit Abstand genommen.

Eine dystopisch anmutende Uhr
(created by: deepai.org)

Es darf also als gesichert angenommen werden, dass Lehrer:innen erheblich mehr arbeiten als sie eigentlich müssten. Leider haben sie aber keine Möglichkeit, sich gegen die Mehrarbeit zu wehren: Obwohl die Ergebnisse der Arbeitszeituntersuchungen eindeutig sind, sind sie doch nur statistische Untersuchungen, die Aussagen zur Gesamtheit oder zum Durchschnitt der Lehrer:innen erlauben, nicht aber zu individuellen Lehrkräften. Es könnte ja sein, dass eine klagende Lehrkraft gerade die statistische Ausreißerin ist, die nicht etwa zu viel, sondern deutlich zu wenig arbeitet. Und genau das ist der Grund, warum wir die Arbeitszeiterfassung brauchen: Sie erfasst individuell, wie viel ein Lehrer, eine Lehrerin arbeitet und erlaubt so, ein Übermaß an Aufgaben begründet abzulehnen.

Das übliche Gegenargument der Kultusminister:innen lautet: Der Lehrer:innenberuf sei geprägt durch frei einteilbare, sehr individuell gestaltbare und an unterschiedlichen Orten abgeleistete Arbeit, die daher kaum messbar sei. Das ist, kurz gesagt, Quatsch. In der Wissenschaft z.B. (auch dort hätten die Minister:innen lieber keine Arbeitszeiterfassung) geht das selbstverständlich. Allerdings nur für Drittmittelprojekte, wenn die Universtität, und nicht etwa die Forscher:innen Rechnungen schreiben. Auch bei privaten Bildungsträgern oder den Volkshochschulen ist eine Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit durchaus möglich. Dies geschieht meist durch eine simple App auf Smartphone oder PC, die einmal zu Beginn und einmal bei Beendigung/Unterbrechung der Arbeitszeit betätigt wird. Technisch spricht also nichts gegen die Arbeitszeiterfassung.

Man muss nicht allzu bösartig sein, um hinter der Angst der Kultusminister:innen vor der Arbeitszeiterfassung einen anderen Grund zu vermuten: Das Deputatsmodell ist nicht nur schön bequem, es ist vor allem billig. Und – zugunsten der Dienstherren – sehr flexibel. Durch einen einzigen Federstrich, ganz ohne Verhandlungen, lässt sich das Deputat und damit die Arbeitsleistung erhöhen. Und es kostet nicht einen Cent! So hat es jüngst Sachsen-Anhalt gemacht. Andere Länder oder die Kultusminister:innenkonferenz (KMK) sind etwas subtiler und erwägen z.B. die Anhebung von Klassengrößen oder die Verlängerung von Klausurzeiten. Dass eine größere Klasse z.B. auch erhöhten Beratungs- und Erziehungsaufwand mit sich bringt, dass längere Klausurzeiten auch längere Klausuren, mithin mehr Korrekturaufwand bedeuten, hat keine Konsequenzen für die behauptete Arbeitszeit der Lehrer:innen.

In vielen Schulministerien herrscht bezügliche zusätzlicher Aufgaben für Lehrer:innen offenbar die Mentalität »Nutzt es auch nichts, so schadet es doch auch nichts«; weil nämlich die zusätzlichen Pflichten ohne sichtbaren Zusatzkosten eingeführt werden können. Und so wurden in den vergangenen Jahren fröhlich Verpflichtungen zu individueller Förderung und Beratung nebst Dokumentationspflichten beschlossen, außerdem diverse Administrations- und Supportverpflichtungen auch für Schüler:innengeräte, die die Digitalisierung mit sich brachte. Für das alles haben die Ministerien (von einigen sehr wenigen Anrechnungsstunden abgesehen) keinen einzigen Cent zusätzlich investiert.

Das »es kostet nichts« ist aber natürlich ein Trugschluss. Ein weiteres Ergebnis der Arbeitszeitstudien ist, dass die meisten Lehrer:innen bereits an ihrem persönlichen Limit arbeiten. Dieses Limit ist individuell verschieden und hängt u.a. von Lebensalter, familiärer Situation, Gesundheit und persönlicher Belastbarkeit ab. Aber wenn es erreicht ist, wird zusätzlichen Pflichten nicht durch eine weitere Entgrenzung der persönlichen Arbeitszeit begegnet, sondern durch Zeitersparnis an anderer Stelle. Es gibt praktisch nur einen Bereich, in dem Lehrer:innen ihren Zeiteinsatz wirklich selbst bestimmen können, und das ist die Unterrichtsvorbereitung. Mit anderen Worten: Alle Zusatzaufgaben und -pflichten, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten beschlossen wurden, gingen letztlich zu Lasten der Vorbereitungszeit, also der Unterrichtsqualität. Das Zurückdringen der Arbeitsbelastung auf ein verträgliches – meinetwegen: das gesetzlich/tariflich festgelegte Maß – sollte daher im ureigensten Interesse der Schulminister:innen liegen. Nur so lässt sich Unterrichtsqualität nachhaltig erhöhen. Um das Maß der zeitlichen Belastung zu ermitteln, muss es aber zunächst einmal gemessen werden. Und genau das ist die Funktion der Arbeitszeiterfassung.

Eine falsch beschriftete Uhr inmitten unleserlicher Worte
(created by: stable diffusion)

Natürlich gilt für die Arbeitszeit das Gleiche wie für den in Schulministerien verbreiteten Testungsfetisch: Vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fetter (bzw. in diesem Fall: nicht schlanker). Aber im Gegensatz zu Schüler:innenleistungen wird die Arbeitszeit von Lehrer:innen eben überhaupt noch nicht gemessen. Eine Messung wäre a) machbar, sie ist b) gesetzlich ohnehin vorgeschrieben und sie wäre c) die einzig akzeptable Grundlage für Gespräche über die Arbeitsbelastung. Abgesehen davon sollte sie natürlich auch eine Selbstverständlichkeit sein, die sich aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn ergibt.

Eine Arbeitszeiterfassung ist auch nicht die Lösung des Überlastungsproblems, sondern kann nur am Anfang einer Lösungssuche stehen. Sie definiert, in welchem Umfang Aufgaben abgegeben werden müssen. Entweder, indem mehr Lehrkräfte (vielleicht aber auch: ITler:innen, Sozialarbeiter:innen, Verwaltungskräfte etc.) eingestellt werden, oder indem Aufgaben ersatzlos gestrichen oder reduziert werden; auch das soll möglich sein. Die Ergebnisse werden im Einzelfall sicher nicht den Wünschen aller Lehrer:innen entsprechen. Es wird sicher vorkommen, dass eine lieb gewonnene Nebenaufgabe gestrichen wird, um mehr Zeit für Unterricht frei zu machen. Und es wird auch vorkommen, dass Lehrer:innen ganz offiziell aufgefordert werden, ihre Standards zu senken, um eine Aufgabe in kürzerer Zeit abschließen zu können. Es mag im Einzelfall sogar vorkommen, dass die Messung eine Minderarbeit ergibt. Dann wird auch über zusätzliche Aufgaben zu reden sein – das wird aber nach übereinstimmender Aussage aller Arbeitszeiterhebungen die absolute Ausnahme sein.

Leider gibt es auch in den Berufsverbänden Personen, die Angst haben oder machen: Die freie Einteilung der Arbeitszeit werde nicht mehr möglich sein, Urlaub müsse wie in der Wirtschaft im Voraus beantragt werden oder es werde nicht mehr erlaubt sein, Sonntags Klausuren zu korrigieren. Davor sollte sich wirklich niemand fürchten: Ich kann mir nur deshalb einen langen Sommerurlaub erlauben, weil ich in der Schulzeit vorgearbeitet habe – nicht anders als in jedem anderen Beruf auch. Und das »Recht«, am Sonntag korrigieren zu dürfen, nutze ich ja nur deshalb, weil ich die Korrekturen in meiner definierten Arbeitszeit nicht schaffe. Auch Befürchtungen, dass künftig alle Lehrer:innen eine Stechuhr im Arbeitszimmer installieren müssen, sind unbegründet – es gibt simple und zuverlässige Lösungen, die in vielen Bereichen bereits erfolgreich eingesetzt werden.

Die individuelle Arbeitszeiterfassung muss kommen. Nicht nur, weil sie Gesetz ist, sondern vor allem, weil sie der Lehrer:innengesundheit und der Unterrichtsqualität dient. Und sie kann ganz einfach umgesetzt werden. Jede:r kann schon heute verschiedene Apps zur Zeiterfassung herunterladen. Die haben zwar für das Schulministerium keine Relevanz, mögen aber bei Diskussionen mit der Schulleitung schon heute hilfreich sein, außerdem ergeben sich wertvolle Einblicke, was die persönlichen Zeitfresser sind. Und schließlich: Sie nehmen die Angst davor, dass eine konsequente Einhaltung der gesetzlichen/tariflichen Arbeitszeit zum Nachteil der Lehrer:innen wäre.

Darum: Nur zu! App installiert und auf ans muntere Zeiterfassen!

Kategorie: Schule, Pädagogik usw.