Lehrer:innen haben morgens recht und mittags frei. Das ist ein so altes und ranziges Vorurteil über unseren Beruf, dass man es wirklich nicht mehr hören mag. Das Vorurteil ist auch einfach falsch - was letztlich sogar diejenigen wissen, die es zu passender wie unpassender Gelegenheit immer wieder hervorkramen. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass sogar einige Kolleg:innen, v.a. Quereinsteiger:innen, diesen Vorurteilen anhängen und große Schwierigkeiten haben, wenn sie sich als unzutreffend erweisen.
Eigentlich sollte dieser Artikel ein Beitrag zu einer von ... ausgerufenen Blogparade sein. Er kommt aber mehrere Wochen zu spät, weil ich schlicht keine Zeit hatte. So viel schon mal zu „mittags frei.“ Wer schon einmal mit einem Widerspruchsverfahren zu tun hatte oder einfach nur mit Eltern, die den Lehrer:innen ihrer Kinder penetrant den Job erklären wollen („Ich war schließlich selber mal Schüler:in!“; „Ich zahle schließlich Steuern!“; „Ich kenne meine Rechte!“), weiß, dass „morgens Recht haben“ schon lange passé ist. Und auch die Zeiten von „mittags frei“ sind leider längst Geschichte, selbst für Glückspilze wie mich, der ich in Teilzeit an einem nicht-ganztags Gymnasium arbeite. Alle mir bekannten Arbeitszeituntersuchungen kommen mehr oder weniger übereinstimmend zum Ergebnis, dass Lehrer:innen im Schnitt (!) ca. 10% unbezahlte Mehrarbeit leisten. Und zwar auf Basis von bereits sehr üppigen 41 Wochenstunden Regelarbeitszeit.
Das wäre jetzt eine schöne Überleitung zu einem weiteren (möglicherweise berechtigten) Vorurteil zu Lehrer:innen: Dass wir gerne klagen und jammern. Lieber möchte ich aber über die Gründe sprechen, warum ich den Job trotzdem immer noch für überaus attraktiv halte - und zwar in aufsteigender Reihenfolge:
(1) Weitgehend freie Zeiteinteilung
Nach Corona sind die teils großzügigen Homeoffice-Regelungen vielerorts wieder auf dem Rückzug. Die meisten Schulen können ihren Lehrer:innen gar keinen Schreibtisch zur Verfügung stellen, der überwiegende Teil der nicht im Klassenraum verbrachten Arbeitszeit muss also wohl oder übel im Homeoffice abgeleistet werden (allerdings ohne, dass die Schule bei der Ausstattung des Arbeitsplatzes helfen würde). Und nicht nur Homeoffice, auch die freie Einteilung der Arbeitszeit ist Standard. So kann man tatsächlich einen großen Teil der Nachmittage arbeitsfrei machen, mit ein Grund, warum der Lehrer:innenberuf sich gut mit familiären Verpflichtungen verträgt. Es ist auch möglich, einen großen Teil der in der Tat sehr langen Ferien arbeitsfrei zu gestalten - das alles heißt natürlich nicht, dass die Nachmittage oder die Ferien frei wären; diese Zeit muss und wird vor- bzw. nachgearbeitet werden, und zwar auch spät abends und an Wochenenden.
(2) Das beste aus zwei Welten: Voll abgesichert, trotzdem selbständig.
Lehrer:innen sind in der Regel Beamt:innen und damit nicht nur gut bezahlt, sondern außerdem sehr gut abgesichert. Eine Kündigung ist ausgeschlossen, selbst bei erwiesener Unfähigkeit ist der Job sicher. Bei krankheitsbedingter Dienstunfähigkeit und sowieso bei der regulären Pensionierung gibt es großzügige Ruhegelder. Üblicherweise erkauft man sich ein solcherart risikoarmes Berufsleben mit dramatisch beschnittenen Freiheiten in der Ausgestaltung des Arbeitsalltags. Wer Freiheit will, kann gerne Unternehmer:in werden oder einen vergleichbar exponierten Job wählen, muss dann aber auch die beruflichen Konsequenzen für mögliche Fehlentscheidungen alleine tragen.
Nicht so bei Lehrer:innen: In der Klasse sind Lehrer:innen die Chef:innen, es gilt die pädagogische Freiheit. Nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch: Unterrichtsbesuche gibt es nur zu besonderen Anlässen, im Regelfall entscheidet jede:r selber, wie der eigene Unterricht gestaltet wird. Selbst Absprachen unter Kolleg:innen sind eher die Ausnahme - hier sticht vor allem meine Schulform, das Gymnasium hervor. Gymnasiallehrer:innen gelten als notorische Teammuffel. Natürlich könnte man befürchten, dass diese Freiheit ausgenutzt wird, um sich den Arbeitsalltag so gemütlich wie möglich zu machen - weil aber das Lehren ein Beziehungsberuf ist, weil man also in intensiver persönlicher Beziehung zu den Schüler:innen steht, gibt es genügend Anreize, trotz (oder gerade: wegen?) fehlender Kontrollen guten Unterricht abzuliefern.
Und bei aller bürokratischer Verkorkstheit des Schulsystems gilt: die besten Unterrichtsideen kann man eigentlich nur auf eigene Faust, also in Ausnutzung der pädagogischen Freiheit ausprobieren und umsetzen.
(3) Kein Beförderungsstress, keine Abstiegsangst
Lehrer:innen verdienen sehr gut, allerdings gibt es kaum Aufstiegsschancen. Wer am Gymnasium mit A13 eingestellt wird, kann sich Hoffnung auf eine Beförderung zu A14 machen (max ca. 500€ monatlich; am Gymnasium beträgt die Anzahl an A14-Stellen insgesamt ca. 25% der Anzahl der A13-Stellen). Das ist ein hübscher Karrieresprung. Und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit der letzte. Die nächste Besoldungsstufe, A15, ist nur noch für eine Handvoll Kolleg:innen an jeder Schule erreichbar, und A16 ist nur die Schulleiter:in.
Natürlich gibt es auch die Option, aus der Schule z.B. in die Bezirksregierungen oder das Ministerium zu wechseln, aber insgesamt sind die Beförderungsaussichten mau. Das ist nicht so schlimm, wie es klingt. Angesichts der großzügigen Eingangsbesoldung könnte man auch sagen: Man wird direkt mit der vorletzten Beförderungsstufe eingestellt und kann sich ganz entspannt um den Arbeitsalltag kümmern, ohne ständig einen guten Eindruck auf die richtigen Menschen machen zu müssen. Und: Wo es keine Beförderungen gibt, gibt es auch keine Rückstufungen. Man kann mutig Neues ausprobieren, ohne im Falle des Scheiterns eine Bestrafung befürchten zu müssen. Auch hier gilt: Lehrer:innen haben die Freiheit, sich um guten Unterricht zu kümmern.
(4) Nicht festgelegt: morgens jagen, nachmittags fischen, abends Webdesign
Für Karl Marx war die Entfremdung der Arbeit eines der Hauptübel des Kapitalismus: Wir tun Arbeit, die wir nicht tun wollen, um Sachen herzustellen, die wir selber nicht benötigen. Das Produkt unserer Arbeit hat mit uns selbst nichts zu tun, insbesondere wenn es ein nur kleines, abstraktes Teilprodukt ist, dessen Bedeutung im großen Ganzen nicht erkennbar ist und wenn wir gezwungen sind, dieselben kleinen Arbeitsschritte immer und immer wieder auszuführen. Seine Vorstellung einer besseren, freieren Arbeitswelt war es, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren“.
Das kommt der Realität als Lehrer:in schon recht nahe: morgens unterrichten, mittags vorbereiten und an den Wochenenden korrigieren. Zwischendurch Unterrichtsprojekte planen und ein bisschen Webdesign, was man gerade so möchte. Natürlich ist dies auch das Hauptproblem des Berufs: Wenn sie von den Arbeiten „drumherum“ entlastet würden, ihre Tätigkeit also wie alle anderen Arbeitnehmer:innen auch auf ein kleines, immergleiches Repertoire beschränken würden, wären sie weit weniger überlastet. Aber eben auch weniger zufrieden.
(5) Sinnstiftende Arbeit
Der wichtigste Vorzug des Lehrer:innenberufs bleibt aber: Die Arbeit macht Spaß, weil sie Sinn macht. Das ist ein weiterer Aspekt des nicht-Entfremdetseins. Man unterstützt junge Menschen bei der Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit und hat lange genug mit ihnen zu tun, um das Ergebnis selber mitzubekommen. Die enge Involviertheit mit echten Menschen ist Fluch und Segen zugleich. Eine Akte lässt sich nach 8 Stunden Arbeit entspannt zuschlagen und bis zum nächsten Morgen vergessen. Die Probleme der Schüler:innen lassen einen aber auch nach Dienstschluss nicht los. Eine gesunde professionelle Distanz ist unverzichtbar, trotzdem sind ein hoher mental Load und ausufernde Arbeitszeiten die Kehrseite der Arbeit mit echten Menschen.
Fazit: anstrengend, aber befriedigend
Insgesamt ist der Beruf nicht das, was sich die meisten darunter vorstellen. Ich bin ehrlich überzeugt, dass er zu den anstrengenderen Berufen zählt. Im Gegenzug wird man aber auch reichlich entlohnt. Durchaus auch finanziell, vor allem aber durch sinnstiftende und weitgehend selbstbestimmte Tätigkeit.