1956, vor über 60 Jahren, setzte Anders sich mit der modernen Gesellschaft auseinander und veröffentlichte seine Beobachtungen und Gedanken hierzu im Sammelband Die Antiquiertheit des Menschen.
Der erste Band enthält mehrere Aufsätze, deren Kernthese besagt, dass beim modernen Menschen die charakterliche und ethische Fortentwicklung (wenn sie denn überhaupt stattfindet) nicht mit der ungleich schnelleren technischen Entwicklung schritthalten kann, dass also die Schere zwischen technischen Möglichkeiten und menschlicher Angepasstheit sich zusehends weiter auftut.
Nicht alle Beiträge sind von gleicher Qualität, der erste Beitrag über die prometheische Scham des Menschen vor der Maschine, hat mich nicht besonders überzeugt. Durch die Gliederung seines Textes in Paragraphen und Unterpunkte gibt Anders dem Werk äußerlich den Anschein systematischer Durchdachtheit – dieser Anschein ist aber bloßer Schein. Er bezieht sich zwar hier und da auf andere Denker, vor allem Heidegger (findet er komisch) und Kant (findet er gut), auch Marx (muss man halt was zu sagen) sowie Becket, dessen En attendant Godot ein eigener Aufsatz gewidmet ist (Bestätigt nur das, was Anders schon immer wusste). Er geht aber kaum wirklich auf andere Denker ein und erspart sich auch jede Quellenangabe. Dafür bezieht sich Anders ganz gerne auf selbst Erlebtes und Gehörtes, das so unwahrscheinlich ist und gleichzeitig so gut auf seine Intentionen passt, dass man an der wahrheitsgetreuen Wiedergabe durchaus Zweifel anmelden kann.
Entgegen dem äußeren Anschein haben wir es also nicht mit einem systematischen, gar wissenschaftlichen System zu tun, sondern mit den privaten Gedanken des Herrn Anders. Und die sind zum Teil schon sehr klug und weisen, auch nach 60 Jahren noch den Weg zum Verständnis menschlicher Irrungen und Wirrungen. Was Herr Anders über die wechselseitige Verschränkung von Fakt und Fiktion im Rundfunk und Fernsehen schreibt, ist auch heute noch eine gültige Beschreibung unseres Verhältnisses zu den Medien: Unsere Vorstellungen von und Erwartungen an die Wirklichkeit beeinflussen nicht nur die Berichterstattung der Medien, sondern schon die Inszenierung der Ereignisse, über die berichtet wird. Und umgekehrt beeinflusst die Art der Berichterstattung unser Konzept und unsere Vorstellung von Wirklichkeit. Filterblasen und Fake News sind Stichwörter, die sich ohne weiteres in Anders' Text einarbeiten ließen.
Auch seine Ausführungen darüber, wie die Atombombe allein durch ihre theoretische Verfügbarkeit bereits wirkt und korrumpiert sind nach wie vor aktuell – wenn auch nicht mehr im von Anders untersuchten Kontext der Supermacht USA, sondern viel unberechenbarer im Fall der neuen und potenziellen Atommächte wie Iran und Nordkorea. Dass die Frage nach dem tatsächlichen Atomwaffenbesitz in den Hintergrund tritt, wenn die Möglichkeit des Besitzes schon politikbestimmend wirkt, zeigt wie weitsichtig Anders' Thesen waren und nach wie vor sind.
Keine systematische Philosophie also, aber kluge Beobachtungen, die uns das Wesen des Menschen verstehen helfen können. Ganz wie von Anders prognostiziert hat sich nämlich in den 60 Jahren seit der Erstveröffentlichung die Technik dramatisch verändert, der Mensch hingegen so gut wie gar nicht. Weil Anders über den Menschen, nicht über die Technik schrieb, ist sein Buch nach wie vor aktuell.