Afrikaanssprachige Literatur ist ein recht übersichtliches und zudem noch weitestgehend abgeschlossenes Sammelgebiet: Vor dem 20. Jahrhundert war Afrikaans als Schriftsprache noch nicht existent, nach dem Ende der Apartheid 1994 ließ und lässt die Bedeutung des Afrikaans – nach einem kurzen Strohfeuer von Aufarbeitungs-Literatur – rasch nach. Nennenswerte Literatur gibt es also nur aus dem 20. Jahrhundert. Trotz dieser besonderen Rahmenbedingungen hat auch die afrikaanse Literatur den einen oder anderen Autor von Weltrang hervorgebracht. Der eine ist Breyten Breytenbach, der andere André Brink.

André Brink ist eine paradoxe Person. Als weißer Schriftsteller im Apartheidsstaat Südafrika gehörte er einer privilegierten Minderheit an. Als afrikaanssprachiger Schriftsteller gehörte er innerhalb der weißen Minderheit einer weiteren privilegierten Minderheit an: Unter den Weißen hielten sich Afrikaans- und Englischsprachige in etwa die Waage – aber während die Macht in den Händen der Afrikaanssprachigen konzentriert war, sprach die Kulturszene überwiegend Englisch. Umso sorgsamer musste das Regime mit den wenigen ernstzunehmenden afrikaansen Schriftstellern (nein, kaum Frauen). André Brink, wie gesagt, war einer von ihnen.

Als Kulturschaffender mit Anspruch war man links in den 1970ern. Selbst Walser und Grass waren damals noch links, und erst recht musste ein ernstzunehmender Schriftsteller in der Heimat der Apartheid links sein. André Brink nahm sich selber und seinen Beruf so ernst, dass er es bis zum Universitätsdozenten für Litetarur brachte, und entsprechend links war er auch. Ferner gilt er als einer der Begründer des modernen afrikaansen Romans, für dessen Entwicklung er sich in der Schriftsteller*innengruppe »die sestigers« einsetzte. Hier war übrigens sogar eine Frau beteiligt.

Brink ist ein bisschen so etwas wie der brave, ordentliche und auch leicht spießige, kleingeistige Bruder von Breyten Breytenbach. Breytenbach ist ein chaotisches Universalgenie, das schreibt und malt und musiziert und sich außerdem noch im Untergrundkampf gegen die Apartheid einsetzte. Breytenbachs Umgang mit seiner – der afrikaansen – Sprache ist spielerisch und hochgradig experimentell. Selbst simpelste Banalitäten gerinnen in seinen Worten zu poetischer Kunst. Überhaupt: alles, was Breytenbach anfasst, wird zu ganz großer Kunst, und zwar inklusive seines eigenen Lebens. Breytenbachs Versuch, in den 70erjahren mit falschem Pass aus dem französischen Exil nach Südafrika zu reisen, um dort eine weiße Widerstandsbewegung aufzubauen, geriet zu einem grandiosen Fiasko, vermutlich nicht zuletzt, weil Breytenbach bereits auf dem Hinflug eine Affäre mit einer Stewardess begann, die mutmaßlich vom südafrikanischen Geheimdienst auf ihn angesetzt worden war. Politisch war Breytenbach eine Katastrophe. Aber sein Bericht über diese Episode (»Return to Paradise«, auf Englisch verfasst, um der afrikaansen Literatur einen Denkzettel zu verpassen) ist ebenso großartige Literatur wie sein im südafrikanischen Gefängnis entstandener Text »Mouroir«.

Brink hingegen ist besser organisiert und vorsichtiger, und er lebt ja auch in Südafrika. Er hat mit dem Apartheidsregime nichts am Hut, aber seine Akte des Widerstands sind ...vorsichtig formuliert: eher symbolischer Natur. Sein Roman über den Widerstand ist daher notwendig fiktiv: Kennis van die Aand.

Im ersten Teil des Romans begegnen wir Joseph Malan in einer Gefängniszelle in Kapstadt. Joseph Malan ist farbig, im Apartheidskontext bedeutet das: von gemischter schwarz-weißer Abstammung. Auch sein Name ist »farbig« – Joseph ist ziemlich schwarz, während Malan sehr eindeutig weiß und afrikaans ist. Joseph sitzt im Gefängnis, weil er seine weiße Freundin Jessica getötet haben soll. Ein junger Pflichtverteidiger gibt sich ehrliche Mühe, das Beste für ihn herauszuholen (lebenslang statt Lebensende), aber Joseph ist seltsam uninteressiert. Seltsam auch: wider Erwarten und gegen den Widerwillen Josephs weist der aufstrebende weiße Advokatenlehrling nach, dass nicht Joseph, sondern sein weißer Freund und Gönner Richard Cole Jessica getötet hat. Wenige Seiten später »nach dem Urteil« verabschiedet sich der Anwalt, bedauert, dass kein besseres Urteil möglich war, ist aber auch verärgert, dass Joseph so unkooperativ war und wünscht ihm Kraft und Mut. Was das Urteil war – man weiß es nicht. Ganz offenbar nicht der Freispruch, der ja angesichts der erwiesenen Unschuld eigentlich zu erwarten gewesen wäre.

Die weiteren Teile des Romans setzen mehrere Generationen früher an und zeichnen zunächst die Geschichte von Josephs Familie, später die Lebensgeschichte von Joseph selber und seiner Zeit mit Jessica nach. Eine Beziehung zwischen einem Farbigen und einer Weißen war im Apartheidsstaat natürlich ein Ding der Unmöglichkeit und böte reichlich Erzählstoff – der hier aber angenehm zurückhaltend und nur als Beiwerk genutzt wird. Es geht Brink nicht um das Klein-Klein der Apartheid, sondern um die ganz großen Fragen des Menschseins: Was macht Menschen zu dem, was sie sind, welche Freiheiten haben sie, ihrer Bestimmung zu entkommen und welche Handlungsmöglichkeiten bleiben ihnen im Angesicht des sichtbar heraufziehenden und unentrinnbaren Unheils? Können Menschen die ganze Wahrheit über das Funktionieren der Welt überhaupt erkennen? Oder können sie, wie in Platons Höhlengleichnis, quasi nur einen Schatten der Wahrheit erkennen, in Brinks (bzw. Josephs) Worten: nicht die Nacht und den Berg, wohl aber den Abend und den Hügel, erkennen?

Brink setzt seine zweifellos vorhandene Handwerkskunst tapfer für die gute Sache ein und konstruiert einen zu Recht von der Kritik gelobten Roman, dem man aber die Arbeit, die darin steckt, schmerzvoll ansieht. Die wenigen Sexszenen entspringen in ihrer klischeehaften Unkonventionalität etwas zu deutlich den Phantasien des älteren weißen Mannes, der Brink nunmal ist. Die Verhör- und Folterszenen zeichnen ein ebenfalls klischeehaft überhöhtes Bild des heldenhaften Joseph, der selbst unter schlimmsten Qualen und Folter bis zur Ohnmacht seine Freund*innen mit keiner Silbe belastet. Das ist eine drastische Anklage gegen das Apartheidregime, aber es wirkt trotz aller Drastik und Gewalt auch seltsam blutleer. Breytenbach hatte es da einige Jahre später leichter: Seine eigenen Erlebnisse mit Ermittlern und Gefängnisbeamten sind eigentlich erheblich harmloser (als weißer Literaturstar wurde er selbstverständlich nicht gefoltert), aber gerade die Widersprüchlichkeit und Kleinkariertheit der Bosheiten macht seinen Text umso schockierender.

Was einen dann doch wieder versöhnt: Der Unsympath in Kennis van die Aand, Literat und Dozent Richard Cole, teilt genau die problematischen Eigenschaften, die Brink eben nur zu einem ziemlich guten Autor und Anti-Apartheidsaktivisten machten. »Richard ... met sy nuwe pak en sy groot leeukop [vergleiche Fotos von Brink in den 70erjahren!] ...bitter en bedruk ... want sy paspoort is twee jaar tevore ingetrek... Warom sou hy, 'n skrywer, hier bly as sy boeke nie hier gelees mag word nie en hy afgesny word van die buiteland?« (S. 306). Genau das ist die Situation Brinks – ein ziemlich guter Autor, der im eigenen Land nicht frei publizieren darf. Das ist tragisch, und man muss ihm zubilligen, dass er Einiges für die gute Sache geopfert hat. Aber: Er selber konnte einigermaßen ungeschoren und doch auch recht komfortabel in Südafrika leben; Breyten Breytenbach war das nicht vergönnt. Die Frage, warum Richard Cole, ein offenkundig englischsprachiger Südafrikaner, das Land nicht verlassen sollte, bleibt offen. Falls Brink sich an dieser Stelle selbst gefragt haben sollte: Als afrikaanssprachiger Autor waren seine Erfolgschancen im Ausland doch sehr begrenzt. Sein internationales Renommee hing einzig an seiner Rolle als intellektueller Zeuge gegen das Unrecht des Apartheidsregimes. Mit der Ausreise ins sichere Ausland hätte sich dieser singuläre claim to fame restlos erledigt.

Überhaupt, die Sprachen: Die Story spielt in der Literatenszene Südafrikas. Man darf davon ausgehen, dass diese Menschen englisch/afrikaans bilingual waren. Josephs Freundin Jessica kommt aus England und spricht möglicherweise ein paar Brocken Afrikaans, aber sicher nicht so viel, dass sie ihre philosophischen Betrachtungen über Erkenntnis von Wahrheit und ihre Abbilder auf Afrikaans anstellen könnte. Auch Josephs Bekanntschaften aus seiner Studienzeit in England sprechen sicher kein Afrikaans. Es wäre die natürlichste Sache der Welt gewesen, die muntere Zweisprachigkeit, die das Leben weißer Südrafrikaner*innen damals prägte, auch in den Roman zu übertragen. Das einzig denkbare Zielpublikum, die kritische Bildungselite (und auch die Sicherheitspolizei), hätte sicher am allerwenigsten Schwierigkeiten mit englischen Passagen gehabt. Trotzdem ist das Buch, abgesehen von wenigen englischen Einsprengeseln zur Erzeugung vermeintlicher Authentizität, komplett in Afrikaans gehalten. Warum? Weil Brink ein afrikaanser Autor ist und seine Werke daher afrikaans? Weil er nur als afrikaanser Autor, als aufgeklärter Bure, international relevant ist?

Brinks Werk ist auch deshalb so berühmt, weil es in Südafrika verboten war. Es war tatsächlich der erste afrikaanse Roman überhaupt, dessen Veröffentlichung in Südafrika 1973 verboten wurde, und zwar nicht nur wegen der politischen Tendenz, sondern auch wegen der Sexszenen. Der Apartheidsstaat war spektakulär prüde, und Sex zwischen Farbigen und Weißen ging natürlich erst recht nicht. 1980/82 allerdings wurde das Verbot aufgehoben, wenngleich unter der Bedingung, dass es nur als Hardcover und nur an über 18jährige verkauft werden durfte. Ironischerweise waren Brink und Breytenbach wenigstens hier in der gleichen Situation: Beide konnten grundsätzlich in Südarfika publizieren, allerdings waren einzelne ihrer Werke verboten.

Ohne es zu wissen, knüpft Brink eine weitere Verbindung zu Breytenbachs Werk, wenn der Protagonist, inzwischen auch erzählerisch wieder sicher im Knast angekommen, sich fragt »Ek wonder soms wat die mensdom sou geword het sonder die boeke wat in tronke geskrywe is. Die wonderlike boeke van Villon. Bunyan se pelgrimreis. Die Don Quijote. Sint Jan van die Kruis.« (S. 304) Und: Breyten Breytenbach, möchte man ergänzen – aber dessen Knastliteratur lag beim ersten Erscheinen von Brinks Buch natürlich noch in der Zukunft.