Die Schatzinsel ist natürlich ein Klassiker der Jugendliteratur, den man eigentlich gelesen haben muss, und zwar nicht nur als Jugendlicher (...ja: traditionell eher die Jungen als die Mädchen), sondern auch noch als Erwachsene*r (da spätestens sollten auch die Frauen informiert sein), weil dieses Buch immer noch als die Blaupause sämtlicher Piratengeschichte verstanden werden kann und es daher vielfältige intertextuelle Bezüge darauf gibt.

Ich hatte das Buch als Kind oder Jugendlicher nie gelesen und musste erst 49 Jahre alt werden, bevor es dazu kam. Klar, das Buch liest sich flott runter. Es ist geradeheraus geschrieben, keine aufwändigen Kunstgriffe, die zum Nachdenken anregen und beim Lesen stören. Und auch klar: Die Charaktere sind eher einfach geschnitzte, flache Charakter. Alles ganz Jugendbuch halt.

 

Was ich spannend finde: Das Buch stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts. Es steht noch in der Tradition gutbürgerlicher englischer Erziehung. d.h.: ein gottesfürchtiges Leben wird am Ende belohnt, das Böse wird bestraft. Und in der Tat, auch in der Schatzinsel kann man sich auf diesen Zusammenhang im Großen und Ganzen noch verlassen: Die Piraten gehen schlussendlich (fast!) leer aus, bis auf Einen sterben sie alle ihren je eigenen, immer aber recht grausamen Tod. Und die Expedition, die zur Schatzsuche in die Südsee aufgebrochen war, kehrt reich belohnt nach Hause zurück, allen voran die Identifikationsfigur Jim, die aus eher ärmlichen Verhältnissen stammte, aber selbstverständlich den entscheidenden Anteil am Erfolg der Expedition hatte.

Es gilt übrigens nicht nur in groben Zügen, sondern auch im kleinen: Ein noch nicht völlig verderbter Pirat besiegelt sein Schicksal und macht den ersten Schritt in den Wahnsinn, als er eine Seite aus seiner Bibel reißt, um eine Piratenbotschaft aufzuschreiben. Und Expeditionsleiter Trelawney hat sich nur deshalb eine Bande von Piraten als Schiffsgenossen auf seiner Expedition eingehandelt, weil er die christliche Tugend der Schweigsamkeit und Bescheidenheit missachtete.

Bemerkenswerte Ausnahme von diesem Muster: Jim – wie gesagt die jugendliche Identifikationsfigur – leistet sich einige drastische Verstöße gegen die Regeln guten, christlichen Lebens. Er gehorcht nicht, er verheimlicht Sachen, er lügt, er denkt an sich, bevor er an andere denkt ...und doch sind es vielfach gerade diese Verstöße gegen das, was man gute Erziehung und gutes Benehmen nennt, die den Erfolg der Expedition herbeiführen.

Dass eine jugendliche Identifikationsfigur den Erwachsenen zeigt, was sie drauf hat und so Reichtum und Leben und vielleicht ein bisschen die Welt rettet – das ist konservative Jugendliteratur nach Schema F. Dass aber der Superheld die Rettung herbeiführt, gerade indem er auf die Regeln pfeifft und gegen besseres Wissen (später: Gegen die Missfallensbekundungen aus der etablierten Gesellschaft) das Verbotene tut, um das Gute zu erreichen – das ist eher so post-WW2-Superheldenliteratur. Die Schatzinsel ist ihrer Zeit hier ein ganzes Stück voraus.

Worin sie ebenfalls ihrer Zeit voraus ist: Sie ist in nicht eben subtile Weise auf eine Fortsetzung hin geschrieben: Ein Teil des Schatzes bleibt unangetastet auf der Schatzinsel zurück, der einzige überlebende Pirat (aber: auch der gefährlichste) setzt sich irgendwo in Südamerika mit einem Beutelchen Gold, vor allem aber mit der Schatzkarte ab. Ein weiterer (zum Guten gewandelter) Pirat verprasst seinen Anteil an der Beute in Windeseile. Natürlich gibt es jede Menge (gewiss sich gegenseitig widersprechende) Fortsetzungen. Keine von ihnen hat aber der Autor des Originals verfasst.