Saul Auerbach ist ein bekannter Fotograf im Südafrika der Apartheidszeit. Die Aufforderung des Autors, Auerbach einfach zu googeln, geht allerdings ins Leere, weil Auerbach fiktiv, wenn auch wohl an ein reales Vorbild angelehnt ist. Verliert der Roman Vladislavićs an Relevanz, weil ein wichtiger Charakter fiktiv ist? Als Vorgeschmack auf die im weiteren Verlauf der Handlung zu navigierenden Fragen darf die geneigte LeserIn gerne darüber nachdenken, was anders wäre, wenn es Auerbach wirklich gäbe.
Auerbach fotografiert Häuser und Menschen. Aus der Frage, ob jedes Haus Menschen mit relevanten, des Erzählens oder Fotografierens würdigen, Geschichten beherbergt, entspinnt sich eine Wette. Auerbach ist ganz entschieden der Meinung, dass alle Menschen komplizierte Geschichten haben, aber nur die wenigsten haben eine erzählenswerte Geschichte. Schon sehr bald wiederlegt der Roman Auerbachs These - oder doch nicht? Immerhin ist Auerbach fiktiv, die Romanhandlung von Vladislavić gesteuert.
Auerbachs Begleiter am Tag der Wette ist Neville: Ein Uniabbrecher, dem sein Vater den Tag mit Auerbach verordnet hat - in der Hoffnung, dass der angry young man den Wert der Geduld erkennen möge.
Daraus wird allerdings zunächst nichts: Neville flieht vor dem Alltag der Apartheid, eigentlich aber nur vor der Wehrpflicht, nach Großbritannien.
Zehn Jahre später, die Apartheid ist mittlerweile Geschichte, Südafrika ein Land im Um- und Aufbruch, kehrt Neville zurück nach Johannesburg. Nun ist auch er Fotograf geworden, allerdings eher zufällig. Seine Spezialität ist es, den ganz kurzen Moment einzufangen, in dem etwas fällt, zerbricht, oder zerstäubt. Heute Dank Photoshop keine Kunst mehr, wie der Autor betont - trotzdem natürlich eine Metapher, der man nicht widerstehen kann.
Während Auerbach Menschen und Häuser und Menschen in Häusern fotografiert, verlegt sich Neville zunächst auf Mauern, dann audf Briefkästen, schließlich auf Menschen vor ihren Häusern und Briefkästen. Wer hier weitere Metaphern sucht, wird leicht fündig.
Der Titel Double Negative hat vordergründig mit zwei Fotografien zu tun, die Auerbach von Menschen in ihren Häusern macht. Er hat sicher auch zu tun mit den Iterationen des Fotografierens und des Verhältnisses von Kunst und Wahrnehmung, wie sie im Roman verhandelt wird. Eine weitere Doppelnegation ist der Lebenslauf Nevilles, der seine weiße südafrikanische Existenz gegen eine Existenz in London eintauscht und später auch diese zu Gunsten einer neuen Existenz in einem neuen Südafrika tauscht. Hebts sich diese doppelte Negation auf, ist er am Ende wieder dort, wo er einmal angefangen hat? Oder ist er zwar wieder am Ausgangspunkt, aber auf einer höheren Stufe? Oder bleibt auch die doppelte Negation letztlich doch Negation?
In der afrikaansen Sprache ist die doppelte Negation trotzdem kein Positiv - das kann beim Lesen des Romans sicher mitgedacht werden, es wird aber nicht angesprochen. Auch sonst ist der Text weitgehend frei von angestrengtem Lokalkolorit. Das hat Vladislavić auch nicht nötig - er ist anerkannter Schriftsteller, der einfach gute Bücher schreibt. Die Bücher spielen in Südafrika, reflektieren sicher auch die spezielle Situation Südafrikas - aber sie sprechen Fragen an, die überall auf der Welt virulent sind.
Das Buch regt zu philosophischen Betrachtungen über Sehen und Gesehenwerden (Klappentext), aber auch über Realität und wie wir sie formen können, darüber, ob das Sein unabhängig vom Bewusstsein exisitiert und wie das Eine das Andere beeinflusst, schließlich was sich verändert, was bleibt, und ob das überhaupt zur Sache tut.
Abgesehen davon ist das Buch auch sehr angenehm zu lesen.