Nachdem der kleine Herr inzwischen durchaus flüssig selber lesen kann, sind Vorlesegeschichte und Erstlesebücher für das abendliche Vorlesen »durch«. Papa muss jetzt nicht mehr Bildgeschichten mit kleinen Textboxen vor»lesen«, auch Sachbücher mit hunderten Bröckchen kindgerecht heruntergebrochenen Infohäppchen liest der Herr jetzt selber. Vor dem Schlafengehen darf dafür gelesen werden, was ein bisschen anspruchsvoller ist und auch etwas längere Konzentrationsfäden sowohl voraussetzt als auch ermöglicht und fördert.

Neulich las ich mit Kind: Die unendliche Geschichte von Michael Ende. Ich erinnere mich noch genau, dass meine eigene Grundschullehrerin Ende der vierten Klasse begann, uns das Buch in der Schule vorzulesen. Klar also, dass der eigene Sohn schon in der zweiten Klasse reif dafür ist, er ist ja schließlich ein Wunderkind. Ich erinnere mich auch, dass ich das Buch dann in und nach den Ferien alleine zu Ende gelesen habe, und dass ich beim Tod von Artrax, Atrejus Pferd, unendlich traurig war und tagelang geheult habe. Unglücklicherweise fiel das genau in die Zeit meiner Einschulung auf dem Gymnasium und meine Eltern waren fest überzeugt, dass die Trauer und Tränen nur mit der neuen Schule zusammenhängen konnte. Die Sümpfe der Traurigkeit sind natürlich eine schöne Metapher, und zwar letztlich für genau den Ort, an den mich das Buch geschickt hat – aber so weit habe ich damals nicht gedacht.

Seit meiner eigenen Schulzeit habe ich das Buch dann nie wieder gelesen und ich habe auch den Film nie gesehen. Trotzdem hatte ich eigentlich immer den Eindruck, mich an die Handlung des Buches zu erinnern, Atrju, Bastian und die Kindliche Kaiserin, außerdem natürlich Fuchur waren mir ein fester Begriff. Allerdings: Ich hatte mich nie mehr gefragt, was eigentlich aus dem all-verschlingenden Nichts bzw. aus Phantasien geworden ist und ich hätte es auch nicht mehr beantworten können. Ich wusste noch, dass Bastian wieder in seine eigene Welt zurückgekehrt ist und den Diebstahl des Buches gebeichtet hat (das war mir offenbar sehr wichtig), aber unter welchen Umständen er zurückkehrte und wie er Phantasien zurückgelassen hat – ich hätte es nicht sagen können.

Nun also habe ich das Buch erneut gelesen und viele große Metaphern für die menschliche Existenz und das menschliche Streben nach Anerkennung gefunden. Das Buch hält vielleicht sogar etwas zu viele gut gemeinte Lehren für die Entwicklung kindlicher oder erwachsener Seelen bereit und es liest sich als Erwachsener bei weitem nicht so ungezwungen und froh wie als Kind. Trotzdem: Meinem Sohn hats gefallen, und mir auch. Und jetzt darf ich gespannt sein, was bei Herrn Sohn noch hängenbleibt...