Marina Weisband erlangte große Bekanntheit als Geschäftsführerin der Piratenpartei. Die Pirat*innen zeichneten sich vor allem durch Digitalaffinität und den Wunsch nach mehr direkter Demokratie aus. Das ist als politisches Programm ein bisschen wenig, da eine Partei zwar Systemänderungen anstreben kann und auch sollte, aber trotzdem natürlich (zunächst) mit dem System arbeiten muss, dass nun mal installiert ist. Und da wüssten Wähler*innen in einer repräsentativen Demokratie schon gerne, für welche konkreten Ziele und Richtungen sich Kandidat*innen einer Partei einsetzen möchten.

Die Pirat*innen sind mittlerweile weitgehend Geschichte, Marina Weisband aber nicht. Sie hat ihr Psychologiestudium beendet und die von ihr gesetzten Schwerpunkte der alten Piratenpartei mit einem persönlichen Faible für Bildungsfragen verknüpft und engagiert sich jetzt im Rahmen von aula für mehr demokratische Mitbestimmungsrechte für Schüler*innen. Dazu hat Weisband bzw. der (ursprünglich) Verein, (jetzt) die gGmbH aula eine Softwareumgebung und ein passgenaues pädagogisches Konzept erstellt, das im Wesentlichen die digitale sowie organisatorische Begleitung und Unterstützung von Klassenräten und Schulräten beinhaltet. Ihr Buch Neue Schule der Demokratie beschreibt und bewirbt dieses Paket.

Der Sinn und Wert von Klassenräten ist unbestritten – nicht nur, um für besser durchdachte und besser legitimierte, daher auch besser umgesetzte Regeln des schulischen Zusammenlebens zu sorgen, sondern auch, um Wert und Nutzen, aber auch Kosten und Beschränkungen demokratischer Prozesse schon früh zu vermitteln. Wenn heute jemand fragt, was gegen den Aufstieg faschistischer und populistischer Parteien geholfen hätte, ist eine wichtige Antwort: Klassenräte. Und zwar solche, die vor 20 Jahren hätten eingeführt werden müssen.

Bei der Beschreibung des Software-Unterbaus von aula bleibt Weisband einigermaßen vage, bei der (wichtigeren!) Darstellung der organisatorischen und pädagogischen Begleitung gibt es nicht sehr viel Neues zu lernen. Das Buch ist daher ein bisschen eine strategische Empfehlung wert: Es vertritt das, was ich selber schon für richtig halte, ohne mich in dieser Sache aber so richtig weiterzubringen. Ich kann es lesen und fühle mich danach bestätigt – das hat Auswirkungen auf mein Wohlbefinden, aber kaum auf mein professionelles Handeln.

Das größte Problem bei der Umsetzung von Klassenratkonzepten spricht Weisband durchaus offen an: Es kostet sehr viel Zeit, und zwar vor allem in der Eingangsphase, aber auch kontinuierlich. Und diese Zeit ist in vielerlei Hinsicht nicht gegeben. Schüler*innen haben fest vorgegebene Stundentafeln, d.h. es ist per Verordnung geregelt, wie viele Stunden maximal im Stundenplan stehen dürfen und wofür sie verwendet werden dürfen. Darin sind zwar auch einige »Ergänzungsstunden« zur Verwendung nach Gutdünken der Schule enthalten, doch diese Stunden sind viel zu wenige und meist schon für andere, ebenfalls sehr wichtige Zwecke restlos ausgereizt. Schulen haben auch nur ein begrenztes Kontingent an Lehrer*innenstunden. Es fehlen die Stunden, letztlich das Personal, um zusätzliche Projekte zu stemmen.

Und schließlich: Sowohl Lehrer*innen als auch Schüler*innen sind mit immer neuen Vorgaben, Zielen, Konzeptarbeiten, Prüfungen, ... restlos überlastet. Lehren ist ein Beziehungsjob. Schüler*innen lernen nicht aus intrinsischer Motivation, sondern auf Grund einer einigermaßen intakten Beziehung zu Lehrer*innen und Mitschüler*innen. Für intakte Beziehungen braucht es Zeit und Gelassenheit. Man muss das Gegenüber kennenlernen, auf seine Situation individuell eingehen und es ernst nehmen, also auch Bereitschaft zu eigenen Verhaltensänderungen zeigen. Wo das gelingt, ist die Basis für einen respektvollen, die Rechte und Interessen aller Beteiligten respektierenden Umgang miteinander gelegt. Das ist schon eine ganze Menge auf dem Weg zu Demokratiebildung. Leider ist unter den aktuellen Bedingungen selbst hierfür keine Zeit. Erst recht schwierig wird es daher, für ein sinnvolles Projekt wie aula die nötige Zeit zusammenzukratzen, sowohl im System als auch individuell.

Zu Recht wird darauf verwiesen, dass eine letztlich autoritäre (also auf Amtsautorität setzende) Klassen- und Schulleitung zwar kurzfristig (zeit-) effizienter sein mag, auf längere Sicht aber viel Energie und Zeit für Repression verbrennt und bei alldem zu schlechteren Entscheidungen und letztlich zu Stagnation führt. Das ist richtig – und doch ändert es nicht daran, dass die meisten Lehrer*innen und Schulleitungen diesen schlechteren Weg wählen müssen, weil schlicht die Ressourcen fehlen, um den besseren Weg zu gehen.

Wie gesagt: Mein Handeln hat das Buch leider nicht verändert. Es ist aber Anlass, über die fatale Unterausstattung des Schulsystems zu reflektieren und wieder ein kleines bisschen mehr zu verzweifeln.