Es dauert eine ziemliche Zeit, aber jetzt habe ich auch ich Hatties viel diskutierte Studie zum Bildungswesen gelesen, halbwegs verstanden, und bin bereit, meinen Senf dazu zu geben.
Was man zunächst einmal wissen muss: Die Studie Lernen sichtbar machen ist keine eigene Studie, sondern eine vergleichende Zusammenfassung von vergleichenden Zusammenfassungen von Studien. Eine meta- (eigentlich: meta-meta)-Studie also. Böse Zungen könnten auch sagen: nicht Primär-, nicht Sekundär-, sondern nur noch Tertiärliteratur.
Angesichts des schieren Menge des Materials, das Hattie verwendet muss man in jedem Fall sagen: Eine Megastudie. Das große Aufhebens, das um seinen Text gemacht wird, hat seine Ursache vor allem in der schieren Masse an Daten, die hier verarbeitet und gewichtet werden. Ein klassischer Fall von Big Data also. Wohl noch nie flossen so viele einzelne Untersuchungen, Bewertungen, Versuche, etc. in einen einzelnen Text ein. Die Idee dahinter klingt plausibel: Hattie möchte möglichst viele Variablen des Unterrichts und der unterrichtlichen Rahmenbedingungen auf ihre Bedeutung für den schulischen Erfolg miteinander vergleichen. Er nutzt dafür bereits vorliegende Studien und kommt so auf eine sehr große Datenmenge, durch die zufällige Ausreißer oder Fehler ausgeschlossen werden soll.
Diejenigen Faktoren, die in vielen Untersuchungen gut abschneiden, können dann als hoffnungsvolle Kandidaten zur Verbesserung des Bildungserfolgs gelten. Aus diesem Ansatz ergibt sich auch die Gliederung seines Texts: Die Einleitung erklärt recht knapp das Vorgehen, vor allem die statistischen Hintergründe, und diskutiert mögliche Kritikpunkte. Das ebenfalls recht knappe Fazit stellt die nach Hatties Meinung aus dem untersuchten Material zu ziehenden Schlussfolgerungen vor. Dazwischen liegt der Hauptteil, der sich in zahllose kleine Unterkapitelchen gliedert, nämlich für jeden betrachteten Einflussfaktor eines. Neben einem kurzen Text gibt es vor allem eine »Barometer« grafische Darstellung des Effekts »d« der jeweiligen Einflussgröße. Dieser Effekt kann negativ sein (nicht so gut) oder positiv (besser); aber ein positiver Effekt alleine macht die Einflussgröße noch nicht zum Bildungspolitischen Renner, weil ja SchülerInnen einfach durch eigene Neugierde und auch durch das bereits bestehende Bildungssystem lernen. Diesen ohnehin gegebenen durchschnittlichen Lernfortschritt beziffert Hattie mit »d«=0,4. Da es ja um eine Verbesserung des Bildungssystems geht, sind nur solche Faktoren vielversprechend, die einen Fortschritt von mehr als 0,4 versprechen.
Der hauptsächliche Claim to Fame, die gigantische Datenbasis, ist leider auch das größte Problem dieser Studie: Gigantische Datenbasis bedeutet nämlich auch, dass es eine sehr breite Streuung zeitlicher und geographischer Art gibt. Hattie vergleicht Studien aus der ganzen Welt (vor allem aus den USA und Australien/Neuseeland, etwas weniger aus Europa) und über einen Zeitraum von den 1960er bis in die 2000er Jahre hinein. Es fragt sich, ob Daten, die aus so verschiedenen Zeiten, Kulturen und auch Bildungssystemen stammen, überhaupt noch vergleichbar sind. Etwas, das in Neuseeland in den 1960er Jahren sehr erfolgreich war, war in den USA in den 2000ern möglicherweise völlig wirkungslos. Zu sagen, dass dieser Faktor dann im Schnitt eine mittelmäßige Wirksamkeit erzielt, halte ich für nicht sehr aussagekräftig. Und umgekehrt: Wenn Hattie herausarbeitet, dass ein Faktor weltweit zwischen 1960 und 2000 eine hohe Wirksamkeit zur Verbesserung des bildungserfolgs hatte: Was sagt das dann über die erwartbaren Chancen bei meinen spezifischen SchülerInnen aus?
Hattie betrachtet viele Einflussfaktoren auf Bildung, aber er ignoriert den über diese Faktoren hinausreichenden Kontext. Seine Studie suggeriert, dass die gleichen Faktoren überall gleich wirksam waren und weiterhin sein werden. Das halte ich für sehr fragwürdig – Unterricht findet immer in konkreten Klassen statt und muss auf deren Situation, Bedürfnisse und Möglichkeiten hin geplant werden.
Fairerweise muss man sagen, dass der Autor eine Fixierung allein auf die Wirksamkeit »d« ausdrücklich ablehnt, schon deshalb, weil für praktische Veränderungen im Bildungssystem nicht nur die Wirklsamkeit eines Faktors, sondern auch der Aufwand der Umsetzung relevant ist. Möglicherweise ist die Umsetzung vieler unaufwändiger Änderungen ja genauso wirksam wie die Umsetzung nur einer, wirksameren, aber eben sehr schwierig umzusetzenden Änderung.
Noch viel wichtiger ist meines Erachtens (siehe oben) der Umstand, dass die »durchschnittliche« Wirksamkeit eines Faktors kaum etwas über seine Wirksamkeit in einer konkreten Situation mit konkreten SchülerInnen aussagt. So oder so: Wenn man sich auf die relative Bedeutungslosigkeit des Faktors »d« einigen kann, stellt sich natürlich die Frage, warum er sowohl in der Infobox zu jedem Faktor als auch in einer nach Wirksamkeiten sortierten Übersicht über alle Faktoren so prominent herausgehoben ist und auch qua Konzeption der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Buchs ist.
Ein weiteres Problem mit den durchschnittlichen Wirkstärken ist, dass Untersuchungen zu neuen didaktischen Ansätzen fast immer mit Freiwilligen, und das heißt mit überdurchschnittlich motivierten LehrerInnen durchgeführt werden. Da der Erfolg des Lehrens (auch nach Hatties Meinung!) sehr von der Motivation der LehrerInnen abhängt, wage ich die Prognose, dass solche überdurchschnittlich motivierten LehrerInnen unabhängig von der gewählten Methode besondere Erfolge erzielen.
Hinzu kommt, dass neue Besen, wie es so schön heißt, immer gut kehren: Eine neue Methode muss erst mal erarbeitet werden, Unterricht nach dieser Methode wird zunächst besonders gründlich vorbereitet, die LehrerIn hat Spaß am Ausprobieren und Entdecken, das Unterrichten nach dieser Methode ist noch nicht zur Routine verkommen... kurz: Die LehrerInnen sind besonders motiviert und daher höchstwahrscheinlich besonders erfolgreich. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich es für gar nicht so schlimm halte, dass alle paar Jahre eine neue didaktische Sau durch die Dörfer getrieben wird. Ob problemorientierter oder SchülerInnenzentrierter Unterricht, ob Konstruktivismus oder Kognitivismus – wichtig ist möglicherweise nicht so sehr der Inhalt dieser Modelle und Ansätze, sondern der Umstand, dass LehrerInnen regelmäßig zu einer Re-Evaluation ihres Unterrichts und zu erneuten Beschäftigung mit Didaktik gezwungen werden und dabei hoffentlich auch den einen oder anderen interessanten Gedanken mitaufnehmen. Wenn das geschieht, wenn sich nicht über Jahrzehnte immer mehr Routine und Phantasielosigkeit aufbauen, wird Unterricht wirksam(er); dabei spielt es dann auch keine Rolle, dass die großen Ansätze nie eins zu eins umgesetzt werden, sondern eigentlich immer nur als Akzentverschiebungen Eingang in die didaktische Praxis von Ottilie-Normal-LehrerIn finden.
Der Nutzen von Hatties Forschung liegt also nicht in den Tabellen und Zahlen, sondern in den kurzen Texten, die mal mehr, mal weniger über die einzelnen Einflussfaktoren reflektieren. Sich das durchzulesen, einfach mal über mögliche Einflüsse auf den Bildungserfolg nachzudenken, schadet nie. Und wenn ich dann beim Nachdenken zum Ergebnis komme, dass Hatties Sicht der Dinge nicht der meinen entspricht, habe ich ja trotzdem meine eigene Sicht auf eine solidere Basis gestellt. Allerdings: Es gibt viele andere anregende Texte über Einflüsse auf den Bildungserfolg, die noch dazu viel angenehmer zu lesen sind.
Das Buch ist also meiner Meinung nach nicht empfehlenswert, und zwar schon deshalb nicht, weil ich die Konzeption für völlig verquer und praxisfern halte. Eine Liste mit Einflussgrößen, die im wesentlichen deren jeweilige Wirksamkeit benennt und sortiert, dann aber (zu Recht!) davor warnt, diese Informationen für relevant zu halten – was soll das?
Brauchbar ist das Buch aufgrund seines Aufbaus, um leicht und schnell zitierfähige Bröckchen zu finden, die sich effektheischerisch z.B. in Unterrichtsplanungen einbauen lassen. Aber natürlich wäre auch dieses Vorgehen nicht im Sinne Hatties, und so muss man insgesamt doch sagen, dass der praktische Nutzwert des Buches sehr begrenzt ist. Hinzu kommt neben einigen offensichtlichen Druckfehlern, wo sich Text und Grafik widersprechen, vor allem eine wirklich lausige Übersetzung. Die ÜbersetzerInnen beklagen zwar in einem eigenen Vorwort wortreich die Schwierigkeiten, einen solchen wissenschaftlichen Text zu übersetzen, und sicher haben sie recht damit: Ich hätte den Job nicht übernehmen wollen. Trotzdem muss man leider sagen: Andere Übersetzungen sind besser gelungen, diese Übersetzung zu lesen macht keine Freude.
Was aber auch nicht so schlimm ist, weil ja schon das Original meines Erachtens nicht besonders lesenswert ist.
Und, wenn man doch noch etwas mitnehmen will, in schamloser Fixierung allein auf die Größe »d«: Der Einsatz von Filmen im Unterricht bringts nicht. Ich hab's ja schon immer gewusst, und Hattie bestätigt es mir. Was will ich mehr?