Jaaaaa, der Datenschutz. Alle sind irgendwie dafür, aber irgendwie weiß auch kaum jemand, wofür er eigentlich gut sein soll.
Die niederländischen Journalisten Maurits Martijn und Dimitri Tokmetzis haben sich über Jahre mit dem Thema beschäftigt und ihre Erkenntnisse nicht nur in regelmäßigen Artikeln in der Onlinezeitung Correspondent (übrigens ein sehr spannendes, mitgliederfinanziertes Projekt alternativen, nämlich soliden, Journalismus), sondern eben auch in einem ganz klassischen, analogen Buch veröffentlicht.
Wir alle wissen, dass wir eine riesige Datenspur hinterlassen, was immer wir tun. Sei es freiwillig (surfen im Netz, einkaufen, kommunizieren), sei es unfreiwillig (Datenerhebung durch Behörden, Überwachung, Datenverarbeitung z.B. durch Arbeitgeber*innen oder Geschäftspartner*innen). Und immer, wenn ein kleines bisschen Geldersparnis, Bequemlichkeit, oder gefühlte Sicherheit winkt, schwinden Bedenken gegen diese gigantische Datensammlung wie das Arktiseis in der Klimakatastrophe. »Was soll's, das darf ruhig jede*r wissen, ich habe eh nichts zu verbergen.«. Nein, wir haben eben doch etwas zu verbergen, so der Titel des Buches und so auch das berechtigte Empfinden, wenn es denn mal konkret wird. Was ich verdiene? Rede ich nicht drüber. Welche Krankheiten ich habe, was ich zum Frühstück esse, wie meine Unterwäsche aussieht, wie viel Sport ich treibe, wie häufig ich mal zu schnell fahre oder falsch parke... lauter Sachen, über die man nicht mal mit Freund*innen offen reden möchte. Und dann sagt man ernsthaft noch »ich habe nichts zu verbergen«? Der grundsätzliche Irrtum beginnt mit der Annahme, nur Verbotenes, Ungehöriges müsse verborgen werden. Dem ist nicht so. Wir haben alle etwas zu verbergen, und das nennt man Privatsphäre. Das Bedürfnis danach ist bei einigen stärker, bei anderen weniger stark ausgeprägt, aber es ist immer vorhanden.
Unser Problem ist, dass unser Empfinden für Privatsphäre (noch?) nicht in der digitalen Welt angekommen ist. Bestimmte Informationen teilen wir relativ gerne mit Unbekannten, weil die uns je nicht kennen und weil jedes einzelne Bröckchen Information für sie relativ uninteressant ist und obendrein auch rasch vergessen wird. In der digitalen Welt wird nichts vergessen, und kleine Informationsbröckchen aus den unterschiedlichsten Quellen werden getauscht, ergänzt, und wachsen so nach und nach zu beachtlichen Informationsklumpen an. Google weiß, was ich suche, Amazon weiß, was ich kaufe, Facebook weiß, was ich lese, schreibe, und gut finde. Wenn alle drei ihr Wissen teilen, wissen sie ziemlich genau, wer ich bin. Und genau das tun die drei Firmen, und sehr viel mehr Firmen tun es ihnen gleich.
Aktuelle Versionen des Firefox informieren über die auf einer Seite eingesetzten Tracker − kleine Spione, die unser Verhalten auf der Website (was schauen wir an? wo klicken wir? wo bleiben wir wie lange?) aufzeichnen und weitergeben. Sueddeutsche.de setzt auf der Startseite 18 Cookies zur Identitätsfindung ein und 30 Tracker, die mein Verhalten auf der Website beobachten, aufzeichnen, und weitergeben. Diese Daten gehen üblicherweise nicht primär an die Betreiber der Website (also die Süddeutsche), sondern an Werbenetzwerke. Diese Netzwerke sind auf vielen Seiten aktiv, und die Daten der verschiedenen Seiten werden miteinander verknüpft, so dass ein ziemlich präzises Profil entstehen kann. Möchte ich das wirklich?
Es geht aber noch gruseliger. Die niederländische Steuerbehörde hat vor einigen Jahren die kompletten Daten eines großen Parkplatzbetreibers angefordert. Es sollte untersucht werden, ob Firmenwagen regelmäßig an Orten fernab der Firma parkten, d.h.: ob sie auch privat statt nur dienstlich genutzt wurden. Mit diesen Daten wäre in städtischen Räumen (d.h. dort, wo man bezahlt parken muss) schon ein Bewegungsprofil machbar. In Kombination mit Meldedaten, auf die die Behörde auch Zugriff hat, könnte dann auch festgestellt werden, wie es z.B. um die Ehe der Betroffenen steht. Verbringt der Mann die Nacht regelmäßig zu Hause? Oder regelmäßig an einer anderen Privatadresse? Auch das kann steuerrechtliche Konsequenzen haben, geht den Staat aus gutem Grund aber nichts an.
Und selbst hier hat das Gruseln noch kein Ende. In einem Rechtsstaat gibt es festgelegte, transparente, d.h. bekannte und daher berechenbare, Prozesse der Entscheidungsfindung. Wenn ein Gesetz verabschiedet wird, mag mir das Ergebnis nicht passen, ich weiß aber wenigstens, wie es zustande gekommen ist und was ich unternehmen kann, um möglicherweise eine bessere Regelung zu ermöglichen. Dazu gehört auch der Lobbyismus. der passt mir nicht, aber wenigstens weiß ich, dass er existiert und kann in Ansätzen nachvollziehen, wie er funktioniert. Es gibt aber Bestrebungen, Entscheidungen zusehends mit Algorithmen zu untermauern. Wo soll die Polizei verstärkt eingesetzt werden? An Orten, für die ein Computerprogramm erhöhte Gefahr von Kriminalität vorhergesagt hat. Soll ein*e Straftäter*in vorzeitig aus der Haft entlassen werden? Das entscheidet ein*e Richter*in mit Hilfe eines Computerprogramms, dass die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls berechnet. Das alles geschieht bereits heute (Letzteres nicht in Deutschland), und es ist sicher gut gemeint und natürlich besser als das Bauchgefühl der Richter*in. Aber auch ein Computerprogramm kann irren, bzw.: die Daten, auf deren Basis es entscheidet können falsch sein (sie sind bestimmt falsch, die Frage ist nur, wie gravierend die Fehler sind) oder die Gesetzmäßigkeiten zwischen Eingangsdaten und Prognose, die das Programm selbstätig erarbeitet, können falsch sein. Wenn das der Fall ist, sehen wir das Ergebnis, wir sehen vielleicht sogar, dass es falsch sein muss − aber wir können nicht erkennen, wo der Fehler liegt. Wir legen dann wichtige Entscheidungen in die Hände von Systemen, die selbständig lernen. Sie unterliegen keiner Rechenschaftspflicht, schlimmer noch: Sie sind nicht einmal in der Lage, Rechenschaft über die Genese ihres Urteils abzulegen.
Im Ergebnis gefährdet die ungehemmte Sammlung und Nutzung von Daten nicht nur unsere Privatsphäre, sondern letztlich eine freie, offene und demokratische Gesellschaft. Wollen wir das wirklich zulassen?
Gut, man muss Niederländisch können. Aber wer das kann, wer es wenigstens lesen kann, sollte dieses Buch unbedingt lesen.