Back in the 90s setzte der renommierte katholische Alttestamentler Erich Zenger sich dafür ein, dem Alten Testament, der Geschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel, auch innerhalb der katholischen Kirche die ihm zustehende Bedeutung zuzugestehen. Er strebte daher unter anderem eine Abkehr vom als erniedrigend befundenen Namen Altes Testament an und diskutierte verschiedene weniger abwertende Bezeichnungen, z.B. Erstes Testament, das es dann auch auf in den Buchtitel geschafft hat. Das ist einerseits ein bisschen egoistisch, letztlich setzte er sich ja für eine Aufwertung seines eigenen Forschungsgebietes ein. Es bestand aber andererseits ein echter Bedarf für diese Intervention. Zenger zitiert in seinem Buch zahlreiche, teilweise haarsträubende Texte seiner Kollegen, die bis in die 80erjahre hinein das Alte Testament als bloßes Anhängsel, quasi als nachgeschobenes Prequel des Neuen Testaments verstehen und es damit dem Neuen Testament unterordnen. Selbst Joseph Ratzinger wird von Zenger mehrfach des Irrglaubens bezichtigt – das ist durchaus pikant, weil jener in den 90ern zwar noch nicht Papst, aber immerhin bereits Präfekt der Glaubenskongregation war.

Zenger hält dem entgegen, dass diese instrumentalisierende Betrachtung des Alten Testaments als bloße Deutungshilfe für das Neue Testament nicht nur unhistorisch ist und den Intentionen der Autoren völlig zuwiderläuft, es steht auch im Widerspruch zu den Kirchenvätern. Diese hatten entschieden, die überlieferte Bibel des Judentums, Pentateuch und Tanach, nicht etwa zu verwerfen, sondern zum integralen Bestandteil eines erst Jahrhunderte nach Leben, Tod und Auferstehung Jesu entstehenden christlichen Kanons, der Bibel, zu erklären. Und zwar in einer Situation, in der man sich sehr um Abgrenzung vom Judentum bemühte.

Solche Weisheit ging in späteren Jahrhunderten leider verloren, und so wurde aus dem ersten Teil der Heiligen Schrift des Christentums irgendwann eine Art minder bedeutender Vorspann zur eigentlichen Bibel des Christentums; eine Art Folie, die zwar selber nicht viel taugt, aber im Vergleich zu der das Neue Testament umso strahlender zur Geltung kommt; ja, man könnte fast schon sagen: Eine Art anti-Bibel, die als negatives Gegengewicht zur »eigentlichen« Bibel des Neuen Testaments das kosmische Gleichgewicht garantiert. Erst nach der Shoa, die auch durch das Schweigen, im Fall der evangelischen Kirche sogar die Mithilfe, der Kirche möglich war, setzte ein sehr langsames Umdenken ein, das, wie gesagt, in den 90ern, seinen Ausdruck in diesem Plädoyer Zengers fand.

Mittlerweile sind wir einige Jahrzehnte weiter und der Drops ist gelutscht: Die christlichen Kirchen sind um Ausgleich und Versöhnung mit dem Judentum bemüht und betonen die gemeinsamen Wurzeln. Das Alte Testament wird entgegen dem Plädoyer Zengers zwar immer noch üblicherweise genau so genannt (ironischerweise auch im auf Zenger zurückgehenden Standardwerk Einführung in das Alte Testament), aber der Name wird nunmehr kritisch reflektiert und eingeordnet. Seriöse Theolog:innen stellen den Wert des Alten Testaments als für sich stehendes und sprechendes Werk nicht mehr in Frage. Trotzdem ist Zengers Text nach wie vor relevant. Das Anerkenntnis der Bibel Jesu als gemeinsame Basis von Christentum und Judentum ist ja nur die eine Seite der Medaille. Daraus ergibt sich aber auch, dass die Deutungshoheit über die Texte des Alten Testaments nicht bei den Christlichen Kirchen, sondern beim Judentum liegt, oder, anders ausgedrückt: Dass das Christentum die Deutungshoheit über seine eigenen Grundlagentexte zumindest teilen muss. Wie mit eine solchen Situation umzugehen ist, auch: wie umzugehen ist mit der Tatsache, dass alttestamentliche Texte den Intentionen Jesu teilweise diametral zuwiderlaufen, das ist eine Frage, die nach wie vor der Klärung harrt. Und dabei kann der Text Zengers auch heute noch hilfreiche Impulse geben.