Dieses Buch ist für mich persönlich ein ganz besonderes: 1977 war ich als Kind zum ersten Mal in der DDR, und ich erinnere mich nicht an viel, aber schon, dass dort vieles irgendwie leicht anders, ver-rückt im eigentlichen Wortsinne war. Auch 1977 publizierte der DDR-Staatsschriftsteller Hermann Kant sein Buch Der Aufenthalt, das ich bei der Auflösung des väterlichen Bücherregals fand und als eines von wenigen Büchern mitnahm. Keine Ahnung, ob es ein Geschenk oder ein gekauftes Mitbringsel war, jedenfalls: es war sichtbar ungelesen. Und auch wenn sich das albern anhört: Es fühlt sich ein bisschen so an, als ob es meine Pflicht sei, hier noch eine letzte Offene Baustelle meines Vaters zu schließen und das Buch noch zu lesen.

Das Buch handelt von Max Niebuhr, der nach einer nur sehr kurzen und eher ergebnislosen Beteiligung am zweiten Weltkrieg in polnische Kriegsgefangenschaft gerät und dort zu Unrecht eines schweren Kriegsverbrechens verdächtigt wird. Das ist für einen verdienten Schriftsteller des Sozialismus natürlich ein sehr dankbarer Plot, an dem sich so einiges an staatstragender Geschichtsschreibung andocken lässt: Die (tatsächlich ja stattgefunden habenden) Gräuel der Wehrmacht als gefällige Kontrastfolie für die friedliebende DDR, die in brüderlicher Freundschaft (oder freundschaftlicher Brüderlichkeit) den sozialistischen Bruderstaaten verbunden ist und keineswegs einen Krieg anfangen würde. Die segensreiche Stärke der Roten Armee, die die geknechteten Kreaturen Osteuropas nicht nur von der barbarischen deutschen Besetzung, sondern gleich auch noch vom Kapitalismus befreit. Und natürlich die Widerlegung aller Klischees von kulturlosen Untermenschen im Osten, die man sich möglichst vom Leibe halten soll.

Aber: diesen billigen Weg wählt Kant nicht. Der grausame Krieg kommt quasi gar nicht vor, und die polnischen und sowjetischen Soldat*innen sind ebensowenig zuverlässig freundlich und einfühlsam wie die deutschen Soldaten automatisch immer grausam und stumpf sein müssen. Viele der Charaktere sind wirklich  gut ausgebaute round characters mit allem, was dazu gehört, inklusive innerer Widersprüche und Konflikte, und, natürlich: Entwicklungen. Letzteres gilt ganz besonders für den Protagonisten Niebuhr, der als kleines Licht nur ganz kurz am Krieg teilnimmt, bevor er gefangen genommen wird und über mehrere Stationen und Lager sowie Gefängnisse schließlich in Untersuchungshaft in Warschau gerät. Es handelt sich um eine Art dunkles Road Movie der Literatur, das schildert, wie Niebuhr im Kontakt mit immer neuen deutschen, sowjetischen und polnischen, übrigens auch einem niederländischen, Menschen sich selbst, den Krieg, und seine Rolle im Krieg hinterfragt und durch den Umgang mit fremden Menschen an diesen wächst.

Kant hat und zeigt viel Ahnung davon, wie Menschen denken und funktionieren. Er hat auch viel Ahnung vom sorgsamen, zurückhaltenden, Effekte sparsam, aber wirkungsvoll einsetzenden Gebrauch der deutschen Sprache. Der Stream of Consciousness, der stellenweise etwas unvermittelt den sanften Erzählfluss unterbricht, war in den 70ern in Deutschland wahrscheinlich der heiße Scheiß (jaja, in der internationalen Literatur natürlich schon Generationen früher).

Wovon Kant keine Ahnung hat, ist, wie man einen niederländischen Dialekt in deutscher Schriftsprache ausdrückt, aber das ist ja vermutlich auch nicht wichtig.

Kant bedient sich wie gesagt nicht gängiger Klischees und Motive des sozialistischen Realismus, Niebuhrs Geschichte ist auch kein sozialistisches Heldenepos und letztlich nicht einmal eine Abrechnung mit dem deutschen Faschismus, der nämlich gar nicht so eine prominente Rolle spielt. Ein ganz großes Marxismus-Ding spielt dann aber doch noch eine unerwartete Hauptrolle, nämlich dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und nicht etwa umgekehrt. Erst an den physischen Realitäten wächst Niebuhrs Bewusstsein über den Charakter der deutschen Kriegsmaschine. Was natürlich die Frage aufwirft, ob nicht gerade ein von menschenverachtender Ideologie befeuerter Vernichtungskrieg auch ein gutes Beispiel für das Bewusstsein bestimmt das Sein hergeben könnte. Für Kant nicht, jedenfalls spielt diese Frage im Aufenthalt keine Rolle. Der Krieg war wie er war, da wird auch nichts beschönigt. Aber warum er so war, was die auch im Aufenthalt vorkommenden Kriegsverbrecher zu dem gemacht hat, was sie sind, wird nicht diskutiert.

Das Buch ist aus heutiger Sicht philosophisch vielleicht nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Aber es ist immer noch wichtig, und auch Fragen, die offen bleiben, sind es wert, gestellt zu werden. nach fast 50 Jahren immer noch eine Empfehlung wert.