Bücher

Stunden aus Blei ist irgendwie auch ein Roman wie aus Blei. Da sind zunächst einmal satte 850 Seiten, die alle gelesen und verstanden werden wollen. Dann ist da eine Handlung, die eigentlich gar keine ist. Eine Schriftstellerin mit besonderem Interesse an China verwickelt sich in Auseinandersetzungen mit einer jungen Chinesin, die eigentlich für ihre Überwachung abgestellt ist. Mit Lektüretipps, u.a. zu Václav Havel bringt sie die Chinesin ins Grübeln. Das bekommt ihr allerdings nicht gut, sie verschwindet spurlos, und, sicher ist sicher, ihre Eltern verschwinden direkt mit.

Das Bleierne schlechthin ist aber die Sprache. Es tropft förmlich aus der Feder der Autorin. Sätze winden sich unendlich mühsam und schwer, Vieles will mehrfach gelesen werden, um überhaupt verstanden zu werden. Bleiern ist auch die Stimmung. Die Lage in China wird in düstersten Farben und Metaphern geschildert, der Umgang der Macht mit Dissident*innen wird schockierend offen zur Sprache gebracht – nicht ohne Grund hat sich die Autorin ein lebenslanges Einreiseverbot nach China gefangen. Tschechien, das Heimatland Denemarkovás, kommt aber kaum besser weg. Es wird gezeichnet als ein vollständig vereinnahmtes Anhängsel Chinas in Europa, als ein Hort korrupter Egoist*innen, seelenloser Goldgräber*innen ohne jede Sensibilität für geschichtliche Verantwortung.

Wenigstens teilweise wird die Geschichte aus der Perspektive zweier sehr altkluger Katzen erzählt (warum auch nicht?), aber es ist nicht immer ganz klar, wer jetzt was erzählt.

Der Roman transportiert eindeutig mehr Stimmung als Handlung. Und die Stimmung ist: schlecht. Schlecht, weil in China ein menschenverachtendes System an der Macht ist und weil der Westen (aber auch die chinesische Bevölkerung) nichts dagegen unternimmt. Weil, im Gegenteil, der Westen im Streben nach kurzfristigen Vorteilen sich selbst an China verkauft und das System so noch stärkt.

Trotz der fehlenden Handlung hat der Roman also eine klare Botschaft. Und die hat sich in der nur kurzen Zeit seit seines Erscheinens als zutreffend erwiesen. Insofern ist er ein echter Gewinn. Der Roman ist aber auch ein bleierner Brocken, den man sich hart erarbeiten muss.

DAS ist das Buch, das ich bereits als Jugendlicher gelesen habe, als ich eigentlich nach Gödel, Escher Bach von Douglas Hofstadter suchte. Der hier besprochene Band ist aber nicht Primärliteratur, sondern eine Sammlung von Texten, an denen Hofstadter und sein Co-Autor Dennett ihre Thesen verdeutlichen – sei es durch Übernahme von Thesen aus Dritttexten, sei es durch Abgrenzung und Wiederlegung. Jeder der abgedruckten Texte wird durch »Reflexionen« ergänzt, die ihn in das Denksystem Hofstadters einordnen.

Hofstadters These ist bekanntlich, dass Intelligenz eine Frage der »Verdrahtung«, also der »Software« im Gegensatz zur »Hardware« ist. Im Anschluss folgerte er bereits in den 1970er Jahren, dass künstliche Intelligenz auf herkömmlichen PCs umsetzbar sei, wenn die PCs und Programme nur hinreichend leistungsfähig und komplex seien. Für die 70er war das eine recht kühne und umstrittene These, aus heutiger Sicht spricht vieles dafür, dass er Recht hat. Heutige »künstliche Intelligenzen« laufen in der Tat auf ganz gewöhnlichen, wenn auch besonders leistungsstarken, PCs.

Streit gibt es allerdings über die Frage, was Intelligenz eigentlich ausmacht und wie man sie ggf. nachweisen könnte. Üblicherweise, und auch von Hofstadter, wird hierfür der Turing-Test herangezogen. Er beruht im Wesentlichen auf der Idee, dass Intelligenz dann vorliegt, wenn Menschen eine Maschine (bzw. ein Programm) nicht von anderen Menschen unterscheiden können. Es gibt allerdings in jüngster Zeit Zweifel, ob dies wirklich ein gültiger Nachweis echter Intelligenz und, implizit immer mitgedacht, echten Bewusstseins sein kann. Nach einem Streitfall bei Google wird die Fähigkeit, Menschen hinters Licht zu führen, eher nicht mehr als Nachweis von Intelligenz gewertet. Künstliche Intelligenzen arbeiten heute i.d.R. mit statistischen Methoden, die auf einem unüberschaubaren Korpus menschlicher Äußerungen beruhen. Diese Korpora lassen sich aus dem Internet mit Leichtigkeit erstellen. Eine hiermit arbeitende Intelligenz ist aber nicht wirklich kreativ. Sie schafft keine neuen Aussagen oder Texte, sondern selektiert und re-arrangiert nur nach veränderlichen Regeln das, was am wahrscheinlichsten von echten Menschen gesagt würde.

Wie aber ließe sich Intelligenz und Bewusstsein nachweisen? Das ist eine der zentralen Fragen, auf die natürlich auch die von Hofstadter/Dennett ausgewählten Texte letztlich keine Antwort, aber immerhin produktive Denkanstöße liefern können.

Anders als ich es in Erinnerung hatte, sind leider weder die Texte noch die »Reflexionen« leicht zu lesen. Sie sind im Gegenteil eher zäh und auch von sehr unterschiedlicher literarischer Qualität. Das Buch nach 35 Jahren noch einmal neu zu lesen, hat seinen Reiz. Aber jetzt erstmalig lesen oder kaufen würde ich es vermutlich nicht.

Havel schreibt den »Versuch, in der Wahrheit zu leben« im letzten Jahrzehnt des tschechoslowakischen Sozialismus. Er bezeichnet die alt gewordenen Diktaturen des Ostblocks als »post-totalitäre« Systeme und meint damit, dass nicht einzelne Personen oder Gruppen diktatorisch (»totalitär«) Macht ausüben, sondern dass die eigentlich Macht in der Ideologie liegt. Auch die Mächtigen des Systems sind nicht aus sich selbst heraus oder qua Position mächtig, sondern nur weil und solange wie sie als ausführendes Organ der Ideologie wirken.

Gerade ganz aktuell: Herr Lavrov ist der Überzeugung, dass die meisten Nazis selber jüdisch waren. Das ist natürlich Blödsinn, aber was, wenn ein glühender Antisemit und Nazi tatsächlich feststellen müsste, dass er zweifelsfrei jüdisch sei? Was macht das mit dem Selbstbild und wie reagiert man da?

Dieses Buch ist für mich persönlich ein ganz besonderes: 1977 war ich als Kind zum ersten Mal in der DDR, und ich erinnere mich nicht an viel, aber schon, dass dort vieles irgendwie leicht anders, ver-rückt im eigentlichen Wortsinne war. Auch 1977 publizierte der DDR-Staatsschriftsteller Hermann Kant sein Buch Der Aufenthalt, das ich bei der Auflösung des väterlichen Bücherregals fand und als eines von wenigen Büchern mitnahm. Keine Ahnung, ob es ein Geschenk oder ein gekauftes Mitbringsel war, jedenfalls: es war sichtbar ungelesen. Und auch wenn sich das albern anhört: Es fühlt sich ein bisschen so an, als ob es meine Pflicht sei, hier noch eine letzte Offene Baustelle meines Vaters zu schließen und das Buch noch zu lesen.

Ende der 1970er-, Anfang der 1980erjahren war dieses Buch, das irgendwo zwischen Philosophie, Mathematik, Informatik und Biologie – oder besser: in allen vier Bereichen gleichzeitig – verortet werden kann, ein echter Geheimtipp. Obwohl der Autor durchaus fleißig weiterpubliziert, gelehrt und geforscht hat, ist es aber mittlerweile recht still um ihn geworden.
Im Grunde geht es Hofstadter um Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence, AI), d.h. um die Frage ob und ggf. wie Computer eine Intelligenz entwickeln können, die der menschlichen ähnlich ist. Um diese Frage zu beantworten, muss man natürlich klären, was Intelligenz überhaupt ausmacht und wie man sie misst oder nachweist. Und sicher wäre es auch nützlich zu wissen, wie und wo die Intelligenz ihren Platz und Menschen hat und natürlich wie sie sich im Verlauf der Evolution entwickelt hat.

Klaus ist ja der »bessere« Mann, und das zeigt sich nirgends deutlicher als in seinem Verhältnis zum NS. Er hat sich persönlich stark exponiert und hat dafür bitter bezahlt – nicht allein durch Emigration, die mit dem Sieg über Nazi-Deutschland zu ende hätte sein können, sondern letztlich auch durch seinen frühen Tod im nun »freiwilligen« Exil. Wobei: Was ist schon freiwillig, wenn das alte Heimatland ihn nach wie vor ablehnt, weil er schon lange vor dem Krieg gewusst und klar benannt hatte, welch schlimmen Geistes seine Mitbürger*innen auch nach dem Ende der Nazi-Herrschaft immer noch waren?

Ca. 100 Jahre lang existierte das »unverteilte Gebiet« Neutral Moresnet, ganz in der Nähe von Aachen. Eigentlich war es nicht viel mehr als das heutige Dörfchen Kelmis, allerdings gab es dort zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem 1. Weltkrieg eine bedeutende Zinkmine, die das Gebiet wirtschaftlich interessant machte.

Was passiert, wenn es einfach keine Regierung, jedenfalls keinen Staat gibt? Oder, wenn es nicht nur einen, sondern zwei Staaten gibt, die nur gemeinsam entscheiden dürfen, sich aber notorisch nicht einigen können? Wie sieht real existierende Anarchie aus? Braucht es wirklich Gerichte und ein staatliches Gewaltmonopol? Moresnet ist quasi eine Langzeituntersuchung zu diesem Thema, die eine recht eindeutige Antwort abgeliefert hat, nämlich: »alles halb so wild, es läuft ganz prima auch ohne Institutionen«.

Philip Dröge informiert sehr kurzweilig, ein bisschen popularisiert, auf Niederländisch (es gibt aber auch eine deutsche Ausgabe) über ein Land, das eigentlich unvorstellbar ist, und trotzdem ganz gut funktioniert hat.

Das Buch der Königstöchter ist der zweite Teil von Theweleits auf vier Bände angelegter Pocahontas-Reihe.

Es widmet sich zwei wesentlichen Schwerpunkten, nämlich einerseits den mit der griechischen Landnahme verknüpften Mythen um Götter und Königstöchter sowie ihren Heroen-Söhnen, allen voran Medea, der Kinder es allerdings gar nicht erst bis zum Heldenstatus bringen. Und andererseits der realhistorisch, aber mythologisch überformten Figur der Malinche, die bei der Eroberung Mexicos durch Cortés geschätzte und wirksame Hilfe des Conquistadors war.

So ein Glück muss man erstmal haben: Ein Jahresstipendium als ausländischer Schriftsteller in Berlin, und dann bricht vor den eigenen Augen die DDR zusammen. Cees Nooteboom, der bereits in den 50ern Erfahrungen mit der DDR und dem Ostblock gesammelt hatte, ist genau das passiert. Seine Berliner Notizen sind als Tagebuch formuliert, das den Weg von scheinbarer Normalität im Osten der Stadt hin zum totalen über-den-Haufen-Werfen aller Sicherheiten und Routinen schildert. Auch wenn es in der Rückschau sicher die eine oder andere redaktionelle Bearbeitung gegeben haben dürfte, sind die Notizen doch ein sehr persönlicher Zugang zu den Ereignissen von 1989/90, die nicht besonders ambitionierten Schwarzweißfotos verstärken den Eindruck der Privatheit noch.